Edgar Wallace

Gesammelte Krimis (69 Titel in einem Buch: Kriminalromane und Detektivgeschichten)


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      »Du meine Güte – er trägt ja Stiefel wie ein Landarbeiter!«

      Die dicken, unförmigen Stiefel waren mit getrocknetem gelbbraunem Lehm bedeckt. Der alte Arzt schaute verwundert auf.

      »Brauchen Sie mich noch, Doktor Macleod?«

      »Nein, ich glaube, daß Sie nicht einmal bei der Leichenschau nötig sind, wenn nicht gewünscht wird, daß Sie meine Aussagen bestätigen.«

      »Gott sei Dank.« Granitt graute es wie allen Ärzten vor gerichtlichen Verhandlungen und dem damit verbundenen Zeitverlust. »Ich bin augenblicklich sehr stark beschäftigt, kaum eine Nacht vergeht, ohne daß ich nicht von irgendeinem überängstlichen Ehemann geweckt werde – die Bevölkerung von Beverley vermehrt sich beängstigend.«

      Andy begleitete ihn bis zur Haustür und ging dann wieder in das Zimmer zurück, wo der Tote lag, um eine genauere Untersuchung des Tatortes vorzunehmen. Er begann mit dem Fenster, durch das der Mörder hereingekommen sein mußte. Seine Theorie bestätigte sich auch sogleich, denn er sah schmutzige Fußspuren auf einem der unter dem Fenster stehenden Diwane. Er betrachtete sie genauer, es waren zwei linke und zwei rechte Schuhabdrücke. Sie waren verhältnismäßig klein, nicht größer als die einer Frau, obgleich der Absatz breiter schien. Wahrscheinlich stammten sie von den Hausschuhen einer Frau. Der Hausmeister hatte ja auch eine weibliche Stimme gehört. Das Fenster ließ sich leicht und geräuschlos öffnen. Andy entdeckte wieder etwas, als er zum Schreibtisch kam. Es war ein großes, altes Möbelstück aus Mahagoni, das sicher echt war, denn ein Mann wie Merrivan hätte sich schwerlich mit einer Imitation begnügt. An jeder Seite des Tisches waren zwei Schubladen, von denen eine offenstand. Merrivan hatte sie vielleicht selbst geöffnet, als er im Sessel saß. Andy zog sie noch weiter heraus, und plötzlich glitzerte ihm etwas Goldenes entgegen. Es war ein Damenring – ein schmaler Reif mit fünf kleinen Smaragden.

      Er runzelte die Stirn. Diesen Ring kannte er doch – wo hatte er ihn nur gesehen? Nun besann er sich – aber er wollte es nicht glauben. Es war Stella Nelsons Ring, den er auf dem Postamt an ihrer linken Hand bemerkt hatte! Er starrte entsetzt auf den kleinen Gegenstand und besah ihn von allen Seiten, dann ließ er ihn in seiner Westentasche verschwinden und schloß die Schublade.

      Er setzte seine Nachforschungen auf und unter dem Schreibtisch fort. Wieder wurden seine Bemühungen belohnt. Er fand ein kleines leeres, mit Leder bezogenes Etui, wie es Juweliere benützen. Er gab sich nicht die Mühe nachzusehen, ob der Ring in die weißsamtene Füllung paßte, denn jeder Ring konnte in ein solches Kästchen gesteckt werden. Er hörte Schritte im Gang und ließ auch das Etui in seine Rocktasche gleiten.

      Der Polizeiinspektor von Beverley trat ein, ein gewichtiger Mann, der ängstlich darauf bedacht war, überall gebührend gewürdigt zu werden.

      Auch er sagte, daß es eine böse Geschichte sei – es war merkwürdig, daß alle Leute immer denselben Ausdruck gebrauchten.

      »Ich werde nun hier die Leitung übernehmen, Mr. Macleod«, sagte er mit Bestimmtheit.

      »Gewiß«, antwortete Andy. »Aber Sie müßten mir dann vorher eine schriftliche Anweisung geben, daß ich mich nicht weiter um die Sache kümmern soll.«

      Der Polizeiinspektor zögerte.

      »Das möchte ich nicht – wir könnten ja zusammenarbeiten. Ich werde, sobald es geht, Scotland Yard benachrichtigen.«

      »Dann werden wir den Fall zusammen bearbeiten, wenn ich den Auftrag bekomme«, entgegnete Andy. »Ihr Name soll nicht verschwiegen werden, im Gegenteil, man wird ihn gebührend erwähnen, Inspektor. Aber überlassen Sie es mir, den Mörder aufzufinden.«

      »Ich bin überzeugt, daß Sie mich nicht zu kurz kommen lassen, Mr. Macleod. Was soll ich nun tun?«

      Andy gab seine Anweisungen, und nach einer halben Stunde war die Leiche aus dem Zimmer entfernt. Später brachte der Polizeiinspektor neue Nachrichten.

      »Mr. Pearson hat den Schuß gehört, er ist davon aufgewacht. Er kam gerade dazu, als der Hausmeister Mr. Merrivan fand. Der Schuß kam aus dem Obstgarten, der hinter dem Haus liegt.«

      Andy hörte ungläubig zu.

      »Aus dem Obstgarten? Das ist unmöglich. Mr. Merrivan ist aus nächster Nähe erschossen worden. Die Weste ist vollständig versengt und geschwärzt.«

      »Aber eins der Dienstmädchen hat den Schuß auch gehört; sie kann vom Fenster ihres Zimmers in den Obstgarten sehen. Sie war auch wach, das Klopfen an der Tür des Hausmeisters hatte sie geweckt.«

      »Aber der Hausmeister selbst hat den Schuß doch nicht gehört!«

      »Er muß gerade die Treppe hinuntergegangen sein«, meinte der Beamte.

      Andy strich nervös sein Haar zurück.

      »Merrivan muß zu der Zeit schon tot und der Safe ausgeraubt gewesen sein. Es hat mindestens einige Minuten gedauert, bis der Mann den richtigen Schlüssel gefunden und den Geldschrank geöffnet hat. Nein, was Sie da sagen, ist unmöglich. Der Hausmeister wird irgendwelchen Lärm gemacht haben – vielleicht hat er einen Stuhl umgeworfen.«

      »Aber das hätte Mr. Pearson doch schwerlich hören können?«

      Andy schwieg zunächst. »Ja, da haben Sie recht«, gab er dann nach einer Weile zu.

      Der Tag dämmerte herauf, und Andy ging durch die Küche in den Garten. Draußen herrschte eine fast feierliche Stille, und die frische Morgenluft war voll Duft und Süße.

      Der Obstgarten lag hinter den Gemüsebeeten. Durch ein Holztor kam man auf einen mit Schlacken bestreuten Weg. Eine Reihe von Obstbäumen stand hinter der anderen, und die mit Kalk angestrichenen Stämme schimmerten weiß im Zwielicht. Der Weg endete im Gras.

      Andy schaute nach rechts und nach links, aber er konnte nichts entdecken, bis er die erste Baumlinie passiert hatte. Auch dann sah er noch nicht gleich die Gestalt, die neben einem der Baumstämme lag, denn seine Augen mußten sich erst an das Zwielicht gewöhnen. Er beugte sich zu dem Mann hinab. Er war tot, über dem Herzen war der Einschuß.

      Andy ging ins Haus zurück und rief den Polizeiinspektor herbei.

      »Ich habe im Garten einen zweiten Toten gefunden, und wenn ich mich nicht täusche, kennen Sie den Erschossenen.«

      Der Beamte begleitete ihn zu der Stelle, wo der Tote lag.

      »Ja, ich kenne ihn. Es ist ein gewisser Sweeny, der früher in Mr. Merrivans Diensten stand. Er wurde entlassen, weil er etwas gestohlen hatte. Das war also der Mörder! Zuerst hat er Mr. Merrivan erschossen, dann ging er hierher und tötete sich selbst!«

      »Dann müßte hier aber doch eine Waffe zu finden sein«, erwiderte Andy ruhig.

      Der Inspektor suchte ohne Erfolg den ganzen umliegenden Boden ab. Das Gras war ganz kurz, es mußte erst kürzlich gemäht worden sein. – Andy stellte später fest, daß in der Woche gerade eine Schafherde im Obstgarten gegrast hatte.

      »Hier hat ein Kampf stattgefunden«, sagte Andy plötzlich. »Sehen Sie doch einmal auf den Boden. Hier sind drei Spuren, als ob sich jemand mit dem Fuß abzustemmen versucht hätte. Und – holen Sie doch bitte einmal den Hausmeister her, Inspektor.«

      Andy wartete, bis der Beamte außer Sicht war, dann ging er schnell zum nächsten Baum und hob einen Gegenstand auf. Es war ein schwarzseidener Schal – der Schal Stella Nelsons, den sie umgelegt hatte, als sie ihn damals zur Gartenpforte begleitet hatte.

      Es stand außer jedem Zweifel: In einer Ecke sah er das roteingestickte Monogramm S. N. Das Tuch war etwas eingerissen. Er roch daran, da er wußte, daß sie ein zartes, unaufdringliches Parfüm benützte. Er konnte sich deutlich an den Duft erinnern. Ja, das Tuch gehörte Stella. Er faltete es so klein als möglich zusammen und steckte es in die Tasche. Mit Entsetzen kam ihm zum Bewußtsein, daß alle seine Anhaltspunkte Stella Nelson belasteten.

      Und doch zweifelte er im Grunde nicht an ihr. Nicht ihre Schönheit und