Taxi brachte Helder zum ›Post Journal‹. Der Chefredakteur war gerade nicht da, dafür konnte er aber mit Jackson sprechen.
Der Journalist begrüßte ihn lächelnd und führte ihn in das Konferenzzimmer.
»Was gibt es denn Neues?« erkundigte sich Helder, nachdem er Platz genommen hatte.
»Glauben Sie nicht, daß ich mir einen Vers darauf machen kann!« entgegnete Jackson. Er ging mit tief in den Hosentaschen vergrabenen Händen im Zimmer hin und her und war offensichtlich durch die letzten Ereignisse etwas aus der Fassung gebracht worden.
»Nachdem Comstock Bell London verlassen hatte«, begann er schließlich, »und nachdem ich Mrs. Verity Bell in einer so merkwürdigen Situation gesehen hatte, setzte das ›Post Journal‹ alles daran, den Aufenthaltsort der beiden festzustellen. Obwohl wir einen Brief erhielten, der in Luzern aufgegeben worden war, wissen wir ganz genau, daß sich das Pärchen damals nicht dort aufhielt. Später bekamen wir dann noch einen weiteren Brief aus Wien …«
»Wie sah er aus?« unterbrach ihn Helder.
»Genau wie der andere – mit der Maschine geschrieben und mit einem Gummistempel statt einer Unterschrift versehen. Außerdem stand noch der Name von Mrs. Bell darunter. Unser Korrespondent in Wien hatte bald herausgebracht, daß Comstock Bell und seine Frau zu der angegebenen Zeit nicht in Wien gewesen waren. Wir haben dann alles nur Menschenmögliche getan, um Licht in diese dunkle Sache zu bringen. Ohne Erfolg. Bis – ja, bis gestern abend.«
»Was ist passiert?«
»Einer unserer Leute hatte den Auftrag, die Schiffe zu beobachten, die nach Boulogne abgehen. Nachdem der Dampfer, der abends dorthin zurückfährt, den Hafen gestern verlassen hatte, machte er sich auf den Weg in ein Lokal, um sich dort ein wenig auszuruhen. Als er am Kai entlangschlenderte, überholte er eine Dame. Zufällig drehte er sich in dem Augenblick nach ihr um, als sie an einer hellen Straßenlaterne vorbeiging – er erkannte Mrs. Bell, die Frau, die er finden sollte.
Er blieb stehen, und im gleichen Augenblick bog sie nach links auf die Landungsbrücke ab. Er begnügte sich damit, anstatt ihr nachzugehen, am Anfang der Landungsbrücke zu warten. Schiff lag keines dort, also mußte sie ja schließlich wieder zurückkommen. Es war ziemlich neblig an diesem Abend, und nach zehn Minuten wurde er unruhig und ging vorsichtig den Steg entlang, bis er an dessen Ende angelangt war. Mrs. Bell war verschwunden, kein Mensch auf der Landungsbrücke zu sehen.«
»Und dann?«
»Heute morgen«, fuhr Jackson fort, »erhielten wir einen Brief aus Boulogne, vor drei Tagen unterschrieben von Comstock Bell und seiner Frau. In dem Schreiben wurde dagegen protestiert, daß sich das ›Post Journal‹ immer noch mit den Privatangelegenheiten der Bells beschäftigte. Hier ist der Brief.«
Er gab ihn Helder, aber dieser machte sich nicht die Mühe, ihn genauer anzusehen.
»Ich glaube, ich verstehe die Sache jetzt«, sagte er. »Comstock Bell hat Ihr Reporter wohl nicht gesehen?«
»Nein. Wir müssen fast annehmen, daß die Dame ertrunken ist«, erwiderte Jackson. »Es war eine ziemlich stürmische Nacht, und sie konnte auf keinem andern Weg zurückkommen als auf der Landungsbrücke, die unser Reporter nicht aus den Augen ließ.«
Helder erhob sich und schaute aus dem Fenster.
»Würden Sie mir einen Gefallen tun?« fragte er.
»Wenn es irgend möglich ist– gern«, entgegnete der andere.
»Vor einigen Wochen«, führ Helder langsam fort, »wurde ein Russe verhaftet, der sich verdächtig gemacht hatte.«
»Ich erinnere mich an den Fall«, entgegnete Jackson. »Soviel ich weiß, wurde er zu drei Monaten Gefängnis verurteilt und soll ausgewiesen werden.«
»Das stimmt«, sagte Helder ruhig. »Dieser Mann könnte vielleicht zur Aufklärung der Angelegenheit beitragen. Ich muß ihn unbedingt sprechen. Glauben Sie, daß es Ihnen möglich ist, mir eine Besuchserlaubnis bei den Behörden zu verschaffen?«
Jackson kniff die Lippen zusammen.
»Ich zweifle zwar daran, werde es aber immerhin versuchen. Sobald der Chefredakteur kommt, wollen wir beraten, was sich tun läßt.«
Helder verabschiedete sich und kehrte in seine Wohnung in der Curzon Street zurück. Gold war nicht in London, wie er durch einen Telefonanruf feststellte.
»Um so besser«, sagte Helder zu sich selbst. »«Wenn man mich in Ruhe läßt, könnte noch alles gut werden.«
Er ging in sein Schlafzimmer, um sich einige Stunden auszuruhen.
Um fünf Uhr nachmittags wurde er von seinem Diener geweckt, der ein Telegramm brachte. Es kam von der Redaktion und lautete:
»Unterredung mit Russen genehmigt. Der Mann sitzt im Chelmsford-Gefängnis. Kommen Sie aufs Büro wegen Erlaubnisschein.«
Jackson war bei Helders Ankunft nicht mehr da. Dafür erwartete ihn der zweite Redakteur und überreichte ihm die für den Besuch des Gefangenen notwendigen Papiere.
»Es würde mich wirklich interessieren, weshalb Sie den Mann aufsuchen wollen«, erkundigte sich der Redakteur noch. »Bringen Sie Comstock Bell etwa mit diesen Banknotenfälschungen in Verbindung?«
Helder nickte bedeutungsvoll.
»Genau das tue ich.«
Kurz erzählte er die Geschichte vom ›Klub der Verbrecher‹ und in welcher Beziehung Comstock Bell zu den Leuten gestanden hatte.
»Hm«, meinte der Redakteur, als Helder fertig war. »Ich habe auch schon so etwas gehört, aber das alles scheinen mir doch nur vage Vermutungen zu sein. Sie behaupten also, daß Willetts von Bell angezeigt wurde?«
»Das weiß ich ganz bestimmt«, sagte Helder. »Bell zeigte Willetts an, damit er sich besser aus der Affäre ziehen konnte.«
»Und womit erklären Sie sich sein plötzliches Verschwinden?«
Helder zögerte. Er war sich noch nicht ganz klar darüber, wie er Bell direkt verdächtigen konnte.
»Ich kann im Augenblick nichts Genaues sagen. Meiner Ansicht nach hat er dieses Mädchen nur geheiratet, um im Fall seiner Entdeckung einen Zeugen hinter sich zu haben. Ich glaube, daß er zur Zeit einen letzten verzweifelten Versuch macht …«
»Entschuldigen Sie«, rief der Redakteur, »wenn ich Sie hier unterbreche! Sie wissen doch ganz genau, daß Comstock Bell ein außerordentlich reicher Mann ist. Durch eine Erbschaft hat sich sein Vermögen jetzt sogar noch beträchtlich erhöht.«
Helder sah ihn erstaunt an.
Der Redakteur nickte.
»Ja«, fuhr er fort. »Letzte Woche starb seine Mutter. Haben Sie denn die Notiz in den Zeitungen nicht gelesen? Sie setzte ihn zum alleinigen Erben ein. Er muß jetzt mehrfacher Millionär sein – und in diesem Fall wären Banknotenfälschungen doch eine recht sonderbare Angelegenheit. Es fehlte ja jedes Motiv!«
»Nun, auf den ersten Blick fehlt auch jedes Motiv für diese ungewöhnliche Heirat«, erwiderte Helder schnell.
»Für Heiraten finden sich immer Gründe«, entgegnete der Redakteur ein wenig kurz angebunden. »Wirklich, Mr. Helder, es gibt keinen einzigen Grund, warum um alles in der Welt Comstock Bell sich mit Banknotenfälschungen hätte abgeben sollen. Aber trotzdem«, sagte er lächelnd und gab Helder die Hand, »kann Ihnen Ihr Russe vielleicht etwas Neues erzählen. Berichten Sie uns darüber – und auf Wiedersehen!«
Am nächsten Morgen fuhr Helder mit dem ersten Zug nach Chelmsford. Um neun Uhr wurde er in das düstere Gebäude eingelassen und in das Zimmer des Direktors geführt.
Colonel Speyer, ein älterer Mann mit grauem Bart, empfing ihn sehr liebenswürdig.
»Sie wollen mit dem Russen sprechen?« fragte er, »Ich wäre froh, wenn wir ihn wieder loshätten.