hätten, wenn ich ihnen gestanden hätte, daß ich selbst einer der vier bin und die Identität des vierten ebensowenig kenne wie sie selbst.«
Poiccart erhob sich und schaute nachdenklich ins Feuer. »Ich habe mich schon oft gefragt, wer es sein könnte. Du nicht auch?«
»Ich habe mir diese Neugierde schon abgewöhnt«, entgegnete Gonsalez. »Wer es auch immer sein mag, ich freue mich, daß es ein hochherziger Mann ist, der eifrig für unsere Sache arbeitet.«
Poiccart stimmte ihm zu.
»Ich bin sicher«, fuhr Gonsalez begeistert fort, »daß er schon große und ehrenvolle Taten vollbracht hat.«
Poiccart nickte ernst.
»Übrigens habe ich auch den alten Lord Verlond aufgesucht«, sagte Gonsalez. »Du erinnerst dich doch, daß Nummer vier uns nahelegte, ihn einmal auf die Probe zu stellen. Er ist ein verbitterter alter Mann mit einer scharfen Zunge.«
Poiccart lächelte.
»Er hat dir wohl gesagt, du sollst dich zum Teufel scheren?«
»Ja, so etwas Ähnliches. Schließlich hat er unter viel Gemurre und Gebrumme zehn Schilling herausgerückt. Aber ich habe mich köstlicher über ihn amüsiert, als das halbe Pfund wert ist.«
»Du hast mir die zehn Schilling nicht für unseren Fonds hier gegeben?«
»Nein, sie waren für andere Zwecke bestimmt«, erwiderte Gonsalez lächelnd.
Sie konnten sich nicht weiter unterhalten, denn es kamen Patienten. Eine Viertelstunde später waren die beiden voll an der Arbeit; sie verbanden Wunden, gaben Ratschläge bei Krankheiten und teilten Medizinen aus. Ihre Hilfeleistungen wurden von den Bedürftigen dieses übervölkerten Stadtteils dankbar in Anspruch genommen.
Das große Haus mit der Freiapotheke und dem Ambulatorium verdankte seine Errichtung und Unterhaltung der Freigebigkeit dreier Ärzte, die plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht waren. Eines Tages stiftete dann ein Unbekannter fünftausend Pfund zur Unterstützung ihrer Arbeit; später erschien er eines Abends persönlich, in einen langen Mantel gehüllt, das Gesicht von einer Maske bedeckt. Er schlug den drei Menschenfreunden vor, ihn in ihren Bund aufzunehmen. Keiner kannte ihn, außer Manfred vielleicht, der das Anerbieten sofort annahm und dem Fremden vertraute. So war er denn ihr Mitarbeiter geworden.
Gelegentliche Beobachter beschrieben die drei Ärzte als Sonderlinge, die ihrem guten Werk jedoch fanatisch ergeben seien. Sie gehörten keiner Organisation an, auch deutete nichts darauf hin, daß sie etwa mit einer religiösen Gemeinschaft in Verbindung stünden, die ebenfalls Notleidenden ärztlichen Beistand spendete. Es war über alle Zweifel erhaben, daß sie die nötigen Kenntnisse und Diplome zur Ausübung ihres Berufes besaßen. Einer von ihnen, Leon Gonsalez, war überdies ein hervorragender Chemiker.
Es war beinahe elf Uhr abends geworden, als die beiden Freunde ihre Arbeit beendet hatten. Der letzte Patient war entlassen, das letzte angstvolle Wimmern eines kranken Kindes verklungen. Die Türen wurden verschlossen, und die Putzfrauen machten sich daran, die Zimmer zu reinigen.
Gonsalez und Poiccart trafen sich müde, aber doch befriedigt von ihrer Arbeit, in ihrem Büro wieder. Dieser gutausgestattete Raum diente den dreien auch als gemeinsames Wohnzimmer. Ein großes Feuer brannte im Kamin, bequeme Armsessel und Ottomanen standen im Zimmer. Ein schwerer, weicher Teppich bedeckte den Boden, und an den Wänden hingen wertvolle Radierungen.
Sie besprachen die behandelten Fälle, verglichen ihre Notizen und erzählten sich interessante Einzelheiten.
Manfred war schon früh am Abend ausgegangen und noch nicht zurückgekehrt.
Plötzlich klingelte es.
Leon Gonsalez sah nach der Anzeigetafel.
»Es ist die Tür zur Apotheke«, sagte er auf spanisch. »Es ist wohl besser, wir sehen einmal nach, wer es ist.«
»Wahrscheinlich wieder ein kleines Mädchen«, meinte Poiccart, »dessen Vater tot oder betrunken ist.«
Sie mußten lachen bei der Erinnerung an diesen Vorfall, der sich tatsächlich ereignet hatte.
Poiccart öffnete die Tür und sah einen Mann im Eingang stehen.
»Es ist ein schweres Unglück passiert, gerade um die Ecke. Kann ich den Mann hierherbringen, Doktor?«
»Was ist denn geschehen?«
»Ich weiß es nicht, jedenfalls scheint er einen Messerstich erhalten zu haben.«
»Bringen Sie ihn herein.«
Poiccart ging schnell zu Gonsalez zurück.
»Ein Opfer einer Messerstecherei. Kann er in dein Sprechzimmer gebracht werden, Leon?«
Gonsalez erhob sich rasch.
»Ja – ich werde gleich den Operationstisch herrichten.«
Wenige Minuten später trugen ein paar Leute den Bewußtlosen herein. Die beiden Freunde erkannten ihn sofort wieder.
Sie legten ihn vorsichtig auf den Operationstisch und machten mit geschickten Händen die Wunde frei, während ein Polizist, der die Leute begleitet hatte, die Neugierigen aus dem Zimmer entfernte.
Als Gonsalez und Poiccart mit dem Verletzten allein waren, sahen sie sich bedeutsam an.
»Wenn ich mich nicht irre«, sagte Leon leise, »so ist das Mr. Willie Jakobs.«
17
May Sandford saß an diesem Abend allein in ihrem Zimmer und las. Als ihr Vater sich von ihr verabschiedet hatte, um an dem Essen eines Aufsichtsrats teilzunehmen, war sie mit der Lektüre eines Buches beschäftigt gewesen, aber nun lag es unbeachtet neben ihr.
Am Nachmittag hatte sie einen dringenden Brief von Oberst Black erhalten, der sie bat, ihn ›in einer äußerst wichtigen Angelegenheit‹ aufzusuchen. Es betreffe ihren Vater und sei ganz geheim. May war bestürzt und verwirrt. Die Dringlichkeit und Heimlichkeit der Nachricht quälte sie unsäglich.
Zum zwanzigsten Male hatte sie ihr Buch wieder aufgenommen, als es plötzlich an die Tür klopfte. Rasch verbarg sie den Brief, der auf dem Tisch lag.
»Ein Mann möchte Sie gern sprechen«, sagte das Mädchen, das auf ihr »Herein!« eingetreten war.
»Wer ist es denn?«
»Ein ganz gewöhnlicher Mann.«
May zögerte. Zum Glück war der Butler nicht ausgegangen; sonst hätte sie den Besucher kaum empfangen.
»Führen Sie ihn in das Arbeitszimmer meines Vaters und sagen Sie Thomas, daß ein fremder Mann im Hause ist. Er soll sich bereithalten; falls ich nach ihm klingle.«
Sie hatte den Fremden noch nie gesehen, der sich bei ihrem Eintritt erhob. Instinktiv mißtraute sie ihm, als sie seine Gesichtszüge sah, obwohl etwas in seinem Wesen lag, das ihr Vertrauen einflößte. Er sah bleich und eingefallen aus, dunkle Schatten umgaben seine Augen, und seine Hände zitterten.
»Jakobs – Willie Jakobs. Es tut mir leid, daß ich Sie störe, Miss, aber ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen.«
»Es ist aber schon sehr spät – was wünschen Sie denn?«
Er drehte seinen Hut verlegen in den Händen und sah auf das wartende Dienstmädchen. Auf einen Wink Mays verließ es das Zimmer.
»Es ist wirklich wichtig für Sie«, begann der Mann wieder. »Black – er hat mich sehr schlecht behandelt.«
Einen Augenblick lang kam ihr ein merkwürdiger Verdacht in den Sinn. Hatte Frank Fellowe diesen Mann hierhergeschickt, um ihr Vertrauen zu Black zu erschüttern? Ein Gefühl des Unwillens gegen den Besucher