Leni Behrendt

Leni Behrendt Staffel 4 – Liebesroman


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nicht mehr Platz hatte.

      Ihr Kind schien die Aufgeregte vergessen zu haben, und hätte Lenore sie nicht daran erinnert, wäre die Mutter wohl ohne ihr Kind ausgestiegen.

      »Richtig, der Junge!« klatschte sie sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Na, so was! Komm her, mein Süßer, was hast du bloß für eine Rabenmutter! – Da hält der Zug ja schon. Kommen Sie mit, Sie kranker Herr?«

      »Gott soll mich bewahren!« hob dieser entsetzt die Hände.

      Da wandte sie sich achselzuckend ab, während er sich bemühte, seinen Koffer aus dem Netz zu ziehen.

      »Lassen Sie mich das machen«, schob Ralf ihn zur Seite. »Der Koffer ist für Sie doch viel zu schwer. Konnten Sie ihn denn nicht aufgeben?«

      »Nein«, kam es verdrießlich zurück. »Es wird so viel gestohlen.«

      »Gehen Sie schon voran, ich folge Ihnen mit dem Gepäck.«

      »Danke, das trage ich.«

      Damit riß er dem Arzt förmlich den Koffer aus der Hand und hastete so schnell davon, als wäre ihm das Angebot des jungen Mannes nicht ganz geheuer.

      Ralf wandte sich nun Lenore zu, die dem allem mit gemischten Gefühlen gefolgt war.

      »Ich muß hinter dem Mann her, damit er nicht zusammenklappt«, erklärte er. »Muß ihn ins Krankenhaus bringen.«

      »Aber du hast doch heute und morgen noch Urlaub«, wagte die Gattin einzuwenden, was ihr einen unwilligen Blick eintrug.

      »Wenn ein hilfloser Kranker den Arzt braucht, gibt es für diesen keinen Urlaub, das mußt du dir merken für alle Zeit. Geh in den Wartesaal und warte da auf mich.«

      Fort war er, und Lenore kam sich vor wie ein Kind, das die Mutter im Dunkeln allein gelassen hatte.

      *

      Obwohl das große Gepäck mit den Möbeln zusammen vorausgeschickt worden war, hatte Lenore doch manches an Handgepäck bei sich. So den Koffer, der außer dem Nachtzeug die Wertsachen barg, ferner die Handtasche, den Schirm und eine Decke. Außerdem hatte Ralf in der Eile seinen Koffer mitzunehmen vergessen, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als sich auch mit dem noch zu beladen.

      Die Decke über die Schulter geworfen, die Handtasche unter einen, den Schirm unter den anderen Arm geklemmt, in jeder Hand einen Koffer, so wankte Lenore den D-Zuggang entlang. Sie hatte alle Mühe, nicht die Balance zu verlieren, als sie über das Trittbrett auf den Bahnsteig kletterte.

      Doch kaum stand sie unten, als sie hinter sich eine bekannte Stimme hörte: »Herrjeh, Fräulein, Sie sind ja der reinste Pack­esel! Los, Ewald, nimm der Ärmsten was ab, sie hat im Zug so lieb unsern Jungen gehalten.«

      »Na, denn geben Sie mal her, Fräuleinchen!« Ein Mann stand jetzt vor Lenore – groß und breit wie ein Haus. »Was Sie Küken da mühsam schleppen, nimmt unsereins auf den kleinen Finger.«

      »Aber Sie haben doch das Kind auf dem Arm und in der anderen Hand die Tasche.«

      »Die kann meine Frau tragen, außerdem noch Ihre Decke. Den größeren Koffer geben Sie mir, ich gehe bestimmt nicht mit ihm durch.«

      »Nehme ich auch gar nicht an.«

      »Dann sind wir uns ja einig.«

      Kurz und bündig nahm er ihr den Koffer aus der Hand und reichte die Decke seiner Frau, die lachend sagte: »Ja, ja, mein Ewald fackelt nicht lange.«

      Danach setzte man sich einträchtig in Bewegung und strebte dem Bahnhofsgebäude zu.

      Auf einmal sagte der Mann überrascht: »Nanu, da geht doch unser Doktor durch die Sperre mit einem Herrn am Arm, der ganz wacklige Beine hat!«

      »Was, das ist euer Doktor?« unterbrach seine Frau ihn perplex. »Du, da kann ich dir erklären, was es mit dem Herrn für eine Bewandtnis hat …«

      Sie erzählte nun von dem Intermezzo im Zug, und Ewald nickte stolz.

      »Ganz unser Doktor Skörsen. Wo es etwas zu helfen gibt, da packt er zu. Und gar noch bei einem Kranken. Den liefert er bestimmt im Krankenhaus ab, obwohl er das gar nicht nötig hat, weil er in Urlaub ist. Heiratsurlaub, man denke sich! Wir dachten alle, uns laust der Affe, als wir hörten, daß er in den heiligen Stand der Ehe treten will. Manch eine von den Mädels, von denen es bei uns nur so wimmelt, mag heimlich ein Tränchen zerdrückt haben, denn es gibt kaum eine, die nicht verliebt in ihn ist. Ist aber auch ein feiner Kerl, der nicht nur prima aussieht, sondern auch einen tadellosen Charakter hat. Ehrenmann nennt man das wohl. Hoffentlich hat er die richtige Frau erwischt, ich wünsche es ihm von ganzem Herzen.«

      Indes hatten auch sie die Sperre passiert, und nun meldete sich Lenore, die bisher schweigend mit dem Ehepaar gegangen war. »Darf ich meinen Koffer haben, Herr Druschke? Ich muß nämlich in den Wartesaal, wo ich abgeholt werde.«

      Lenore sah ihnen nach, bis sie ihrem Blick entschwanden. Dann ging sie in den Wartesaal, der so überfüllt war, daß sie in einer Ecke gerade noch einen Tisch erwischte, der nur zwei Personen Platz bot. Hoffentlich blieb der andere Stuhl unbesetzt; denn ihr lag gar nichts daran, Gesellschaft zu bekommen. Ihr genügte die vollkommen, die sie im Abteil gehabt hatte.

      Wie verloren kam Lenore sich vor, wie ein Kind, das von der Mutter ausgesetzt worden war. Nur mit Mühe konnte sie ein Gefühl der Bitterkeit unterdrücken gegen den Mann, der sie so allein ließ. Er wußte doch, daß sie drei Jahre lang kaum aus den vier Wänden herausgekommen und darüber weltfremd geworden war. Wie konnte er sie da in dem Wirrwarr sich selbst überlassen. Ein Wunder, daß er sie nicht allein zu seinen Angehörigen schickte. Denen sie ohnehin schon bang genug entgegensah. Wohl sollte die Mutter nach seiner Aussage ein gutherziger Mensch sein, die Schwester wohl keck und vorlaut wie alle Backfische, sonst jedoch gut zu leiden.

      Und dennoch. Still weinte sie in sich hinein – und schrak zusammen, als eine angenehme Stimme neben ihr sprach: »Ist dieser Stuhl noch frei?«

      »Ja, bitte.«

      »Danke sehr«, die Dame mittleren Alters ließ sich nieder. »Habe ich denn doch noch den letzten Platz erwischt! Ich weiß nicht, was heute los sein mag, das quirlt ja durcheinander wie im Ameisenhaufen. Nun, ich sitze, das ist mir die Hauptsache. Und ich werde nicht warten, bis die über Gebühr beanspruchte Bedienung für mich eventuell Zeit hat, sondern werde mich selbst verpflegen.«

      Damit zog sie ein Päckchen mit belegten Broten aus der großen Tasche und biß gleich darauf so herzhaft in eine Schnitte, daß Lenore tatsächlich das Wasser im Mund zusammenlief. Sie hatte nämlich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, und jetzt war es bereits über die Kaffeezeit hinaus.

      Verlegen senkte sie die Augen, als die Dame sie so forschend ansah, als wollte sie ihre Seele ergründen – doch der Blick hatte etwas Gütiges, Ritterliches.

      Überhaupt erinnerte die Dame Lenore an ihre Mutter, wie diese vor ihrer Krankheit gewesen war. Genau das volle Gesicht mit den blühenden Farben, das dunkle, leichtgewellte Haar, die hellbraunen Augen mit den Goldpünktchen, die wohlproportionierte Gestalt. Selbst die Stimme erschien ihr ähnlich und das Lächeln, das Grübchen in die Wangen zauberte.

      Lenore hatte keine Ahnung, wie sehnsüchtig der Blick war, mit dem sie die Dame musterte. Sie ahnte auch nicht, daß diese sofort ihre verweinten Augen bemerkt hatte und sich darüber Gedanken machte.

      Sollte dieses junge schöne Geschöpf etwa …?

      »Getraude, kombiniere nicht!« hörte sie so deutlich des Gatten Stimme, als ob er neben ihr wäre.

      Da lachte sie ein gutes, herzliches Lachen, das Lenore entzückte, denn so hatte ihre Mutter einst gelacht.

      Und schon kamen wieder die Tränen, deren die junge Frau sich schämte. Um so mehr noch, als die Dame nun behutsam fragte: »Mein liebes Fräulein, fühlen Sie sich nicht wohl?«

      »Doch, gewiß«, kam die Antwort verwirrt. »Ich habe wohl nur Hunger.«

      »Muß der aber groß sein«, bemerkte ihr