schwieg sie endlich still, und nun sprach diese Stille beredter als alle Briefe in Heinrichs Seele, welcher sich doch nicht rühren noch regen konnte.
So kam es, daß er, während er für seine Person sich schuldlos fühlte und die Dinge nicht fürchtete, in Ansehung seiner Mutter eine große Schuld erwachsen sah, an der er doch wieder nicht schuld zu sein meinte, und daher wußte er in diesem Doppelzustande keinen andern Ausweg, als Gott zu bitten, seine Mutter vor Kummer und Leid zu schützen. Daß er bei diesem Schütze selber gut wegkam, darüber gab er sich vollkommen Rechenschaft und suchte sich zu überzeugen, daß dennoch sein Gebet uneigennützig und es ihm durchaus nicht um sich selbst zu tun sei; dann mußte er sich aber wieder sagen, daß seine Mutter ohne Zweifel zu Hause in der nämlichen Weise Gott für ihr Kind und nicht für sich selbst bitte, und da doch alles beim alten blieb und Gott in der Mitte der sich kreuzenden flehentlichen Bitten sich ganz still verhielt, so vermehrten starke Zweifel an der Vernünftigkeit dieses ganzen Wesens sein Leid und sein Schuldbewußtsein. Denn wenn er sich bemühte, um sich das Verhalten eines wirklich vorsehenden und eingreifenden Gottes glaubwürdig und begreiflich zu machen, an der Mutter selbst eine Art Schuld aufzufinden, welche eine solche Leidensschule verursacht, so konnte er keine finden, und diese ganze Untersuchung dünkte ihn lästerlich und unkindlich; oder wenn er endlich, etwa dachte, daß vielleicht gerade das ängstliche Wesen der Mutter in irdischen Dingen, der große Wert, den sie auf ein sicheres Auskommen und auf eine herbe Sparsamkeit legte, ihr Vergehen sei, welches eine weise Schule Gottes hervorgerufen, so konnte er doch zwischen der anhaltenden und bitteren Strenge dieser Schule und der geringfügigen harmlosen und unschädlichen Ursache derselben durchaus kein gerechtes und weises Verhältnis finden, und wenn noch irgend etwas Verhältnismäßiges da war, so dünkte es ihn erträglicher und edler, es lediglich als die innewohnende Folgerichtigkeit und Notwendigkeit der Dinge zu betrachten, als es dem vorsätzlichen Benehmen eines überkritischen Gottes zuzuschreiben. Nichtsdestominder wandte er sich jedesmal, wenn das verlorene Schweigen zwischen ihm und der Mutter recht in ihn hineinfraß, wieder mit einem wahren sehnsüchtigen Höllenzwang von heißen Gebeten an eben diesen sich mäuschenstill verhaltenden Gott.
Als er eines Tages niedergeschlagen und in schlechten Zuständen auf der Straße ging und sich von keinem Menschen beachtet glaubte, kam ein stattlicher junger Bürgersmann mit einem blühenden Weib am Arme auf ihn zu und redete ihn in seiner Heimatsprache an, welche ihm wie ein Laut aus besserer Welt klang in dem Rauschen und Dröhnen der fremden Stadt. Der Landsmann zeigte sich erfreut, ihn endlich gefunden zu haben, und verkündete ihm Grüße von seiner Mutter. Während in Heinrich süße Freude und trauriger Schreck sich mischten und bekämpften und er rot und blaß wurde, erzählte der Fremde, wer er sei, und wunderte sich, von Heinrich nicht gekannt zu sein. Es war aber niemand anders als ein nächster Nachbar des väterlichen Hauses und jener junge Handwerker, welcher mit Heinrich am gleichen Tage in die Fremde gezogen, aber zu Fuß und ein schweres Felleisen tragend, von seiner armen Mutter begleitet, indessen jener so hoffnungsvoll auf dem Postwagen in die Welt hineinfuhr. Sich in seinem einfachen Handwerk beschränkend und nichts anderes kennend als die unermüdete Nutzanwendung seiner fleißigen und geschickten Hand, jeden Vorteil für dieselbe ersehend und die Augen überall aufmachend, aber nur auf ein und denselben Gegenstand gerichtet und allerorten nur diesen sehend, war er nach wenigen Jahren als ein wohlgeschulter und entschlossener junger Mann zurückgekehrt und begann die Gründung seines Hauses mit so zweifellosem und glücklichem Willen, als ob es gar nicht anders hergehen könnte, und die Welt empfing und förderte ihn dabei, als ob es nur so sein müßte, von seinem klaren Mute angezogen und bezwungen, und als Pfand gab sie ihm ein schönes und wohlhabendes Bürgermädchen zur Frau, mit welcher er jetzt eben, nicht ohne kluge geschäftliche Nebenzwecke, die Hochzeitreise machte.
Er hatte vor seiner Abreise bei Heinrichs Mutter angefragt, ob sie etwas für ihren Sohn auszurichten hätte, und diese, indem sie mit Beschämung gestehen mußte, daß sie nicht einmal wisse, wo er sei, und sich zu diesem Geständnis nur widerstrebend verstand, bat ihn, den Sohn aufzusuchen und denselben aufzufordern, ihr Nachricht von sich zu geben, oder ihn womöglich zu bestimmen, nach Hause zu kommen.
So stand Heinrich nun vor dem stattlich aussehenden blühenden Paare, welches bei aller Freundlichkeit sich nicht enthalten konnte, prüfende Blicke auf seinen schlechten Anzug zu werfen. Da es der letzte Tag ihres Aufenthaltes war und sie auf den Abend abreisen wollten, so luden sie ihn ein, mit ihnen zu gehen und die übrige Zeit noch mit ihnen zu verbringen. Sie führten ihn in den Gasthof, und Heinrich aß mit ihnen zu Mittag. Es war lange her, seit er sich an einem so wohlbesetzten Tische gesehen und feuriger Wein seine Lippen berührt. Der landsmännische Gastfreund ließ reichlich auftragen und drang wohlmeinend in ihn, es sich schmecken zu lassen, und alles dies machte Heinrich nur um so verlegener und ließ ihn seine Armut doppelt empfinden, und indem er sah, daß die jungen Eheleute das wohl bemerkten, sich in ihrer glücklichen Stimmung mäßigten und mit zartem Sinne einen der seltsamen Lage angemessenen Ton innezuhalten suchten, empfand er es wieder bitter, nicht nur selbst unglücklich zu sein, sondern durch sein so beschaffenes Dasein die heitere Stimmung anderer vorübergehend zu trüben, gleich einer Regenwolke, die über einen hellen Himmel hinzieht.
Obgleich es ihn drängte, soviel als möglich von seiner Mutter sprechen zu hören, suchte er sich lange zu bezwingen und nicht durch Fragen zu verraten, daß er gar nichts von ihr wisse, bis der edle Wein, welchen der Mann genugsam strömen ließ, ihm die Zunge löste, ihn alles Widerstreben vergessen, sehnlich und unverhohlen nach der Mutter fragen ließ.
Da nahm sich der Landsmann zusammen und sagte »Ich will es Ihnen nicht verhehlen, Herr Lee, daß Ihre Mutter sehr Ihrer Rückkunft bedarf, und ich würde Ihnen raten und fordere Sie sogar auf, so bald als immer möglich heimzukommen; denn während die brave Frau den tiefsten Kummer und die Sehnsucht nach Ihnen zu verbergen sucht, sehen wir wohl, wie sie sich darin aufzehrt und Tag und Nacht nichts anderes denkt. Soviel ich jetzo sehe, wenn Sie meine Freiheit nicht übelnehmen wollen, steht es nicht zum besten mit Ihnen, und erachte ich, daß Sie in dem Stadium sind, wo die Herren Künstler allerlei durchmachen müssen, um endlich mit Ehre und stattlichem Ansehen aus der Not hervorzugehen. Unsereines hat wohl auch allerlei Strapazen auf der Wanderschaft durchzumachen oder als Anfänger harte Zeit zu erleben; allein mit der Arbeit können wir, wenn wir nur wollen, uns jederzeit helfen, und unsere Hände sind immer so gut wie bares Geld oder gebackenes Brot und für jede Stunde eine unmittelbare Selbsthilfe, während es bei Ihnen dazu noch gutes Glück und allerlei Unerhörtes braucht, wovon ich nichts verstehe. Vorlaute und unverständige Weibsen und auch ebensolche Männer in unserer Stadt, wo es ruchbar geworden, daß Ihre Mutter große Summen an Sie gewendet und ihr eigenes Auskommen dadurch bedeutend geschmälert hat, haben es sich beikommen lassen, dieselbe hart zu tadeln hinter ihrem Rücken und auch ihr ins Gesicht ungefragt zu sagen, daß sie unrecht getan und sowohl ihrem Sohne schlecht gedient als durch solche unzukömmliche Opfer sich selbst überhoben habe. Jedermann, der Ihre Mutter kennt, weiß, daß alles eher als dieses der Fall ist, aber das unverständige Geschwätz hat sie vollends eingeschüchtert, daß sie fast mit niemand zusammenkommt und so in Einsamkeit und harter Selbstverleugnung dahinlebt. Obgleich die Nachbaren ihr manche Dienste anbieten, nimmt sie nichts an, und die Art, wie sie dies tut und wie sie ihre Sachen besorgt, hat, soviel man davon sehen kann, etwas höchst Seltsames und Schwermütigmachendes für uns Zuschauer. Sie sitzt den ganzen Tag am Fenster und spinnt, sie spinnt jahraus und – ein, als ob sie zwölf Töchter auszusteuern hätte, und zwar, wie sie sagt, damit doch mittlerweile etwas angesammelt würde und, da sie nichts anderes ansammeln könne, wenigstens ihr Sohn für sein Leben lang und für sein ganzes Haus genug Leinwand finde. Wie es scheint, glaubt sie durch diesen Vorrat weißen Tuches, das sie jedes Jahr weben läßt, Ihr Glück herbeizulocken, gleichsam wie in ein aufgespanntes Netz, damit es durch einen tüchtigen Hausstand ausgefüllt werde, oder gleichsam wie die Gelehrten und Schriftsteller durch ein Buch weißes Papier gereizt und veranlaßt werden sollen, ein gutes Werk darauf zu schreiben, oder die Maler durch eine ausgespannte Leinwand, ein schönes Stück Leben darauf zu malen. Zuweilen stützt sie ausruhend den Kopf auf die Hand und staunt unverwandt in das Land hinaus, über die Dächer weg oder in die Wolken; wenn es aber dunkelt, so läßt sie das Rad stillstehen und bleibt so im Dunkeln sitzen, ohne Licht anzuzünden, und wenn der Mond oder ein fremder Lichtstrahl auf ihr Fenster fällt, so kann man alsdann unfehlbar ihre Gestalt in demselben sehen, wie sie immer gleich