Готфрид Келлер

Gesammelte Werke von Gottfried Keller


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etwa umzukommen oder unterzugehen, und also das schlechte Abenteuer nur eine entbehrliche Vexation sei. Doch raffte er sich noch einmal zusammen und behauptete dem guten Mute mit verzweifelter Kraftanstrengung die Oberhand. Er war jetzt aus einer Waldstraße getreten und sah ein breites Tal vor sich, welches ein großes Gut zu enthalten schien; denn schöne Parkbäume, die eine herrschaftliche Dächergruppe umgaben, wechselten mit den Waldungen ab, und zwischen weiten Wiesengründen und Feldern lag eine weitläufige Dorfschaft zerstreut. Zunächst vor ihm sah er ein katholisches Kirchlein stehen, dessen Türen offen waren.

      Er trat hinein, wo es schon ganz dämmerig war und das Ewige Licht wie ein Stern vor dem Altar schwebte. Die Kirche schien uralt zu sein, die Fenster waren zum Teil gemalt und die Wände sowie der Boden mit adeligen Grabsteinen bedeckt. »Hier will ich die Nacht zubringen«, sagte Heinrich zu sich selbst, »und unter dem Schutze der allerchristlichsten Kirche austrocknen und ausruhen.« Er setzte sich in einen dunklen Beichtstuhl, in welchem ein stattliches Kissen lag, und wollte eben das grüne seidene Vorhängelchen vorziehen, um augenblicklich einzuschlafen, als eine derbe Hand das Vorhängelchen anhielt und der Küster, der ihm nachgegangen, vor ihm stand und sagte »Wollt Ihr etwa hier übernachten, guter Freund? Hier könnt Ihr nicht bleiben!«

      »Warum nicht?« sagte Heinrich.

      »Weil ich sogleich die Kirche zuschließen werde! Gehet sogleich hinaus!« erwiderte der Küster.

      »Ich kann nicht gehen«, sagte Heinrich, »laßt mich hier sitzen, die Mutter Gottes wird es Euch nicht übelnehmen!«

      »Geht jetzt sogleich hinaus! Ihr könnt durchaus nicht hierbleiben!« rief der Küster, und Heinrich schlich trübselig aus der Kirche, während der Küster rasselnd die Türen zuschlug und um die Kirche herumging. Heinrich stand jetzt auf einem Kirchhof, welcher durchaus einem schönen und wohlgepflegten Garten glich, indem jedes Grab ein Blumenbeet vorstellte, die Gräber zwanglos und malerisch gruppiert waren, hier ein einzelnes großes Grab, dort ein solches nebst einem Kindergräbchen, dann eine ganze Kolonie kleiner Kindergräber, dann wieder eine größere oder kleinere Familie großer Gräber und so fort, welche alle in verschiedenem Charakter bepflanzt und mit Blumen besetzt waren. Die Wege waren sorgfältig mit Kies bedeckt und gerechet und verloren sich ohne Scheidemauer unter die dunklen Bäume eines Lustwaldes, große Ahornbäume, Ulmen und Eichen. Es hatte etwas zu regnen nachgelassen, doch tröpfelte es noch ziemlich, indessen gegen Abend ein schmaler feuriger Streifen Abendrot auf den Hügeln lag und einen schwachen Schein auf die Leichensteine warf. Heinrich sank auf eine zierliche Gartenbank unter den Gräbern; denn er vermochte kaum mehr zu stehen. Nun kam ein schlankes weibliches Wesen unter den Bäumen hervor mit raschen leichten Schritten, welches eine schwarzseidene Mantille trug, reiche dunkle Locken lustig im Winde schüttelte und mit der einen Hand die Mantille über der Brust festhielt, indes die andere Hand einen leichten Regenschirm trug, der aber nicht aufgespannt war. Diese sehr anmutige Gestalt eilte gar wohlgemut zwischen den Gräbern herum und schien dieselben aufmerksam zu besichtigen, ob die Gewächse von Sturm und Regen nicht gelitten hätten. Hie und da kauerte sie nieder, warf ihr Schirmchen auf den Kiesweg und band eine flatternde Rose frisch auf oder schnitt sich mit einem Scherchen eine Blume ab, worauf sie wieder weitereilte. Heinrich sah, erschöpft wie er war, diese schöne Erscheinung wie einen Traum vor sich hinschweben und dachte nicht viel dabei, obschon sie ihm einen angenehmen Eindruck machte, als der Küster wieder hinter der Kirche hervorkam und Heinrich abermals anredete.

      »Hier könnt Ihr auch nicht bleiben, guter Freund!« sagte er, »dieser Gottesacker gehört gewissermaßen zu den herrschaftlichen Gärten, und kein Fremder darf sich da zur Nachtzeit herumtreiben.«

      Heinrich antwortete gar nicht, sondern sah teilnahmlos vor sich hin.

      »Nun, hört Ihr nicht? Auf! Steht in Gottes Namen auf, guter Freund!« rief der Küster etwas lauter und rüttelte den Müden an der Schulter, wie man etwa einen Betrunkenen aufmuntert. In diesem Augenblicke kam jenes Frauenzimmer zur Stelle und hielt ihren zierlichen Gang an, um dem Handel neugierig zuzuschauen. Diese Neugierde war so kindlich und gutmütig, und zugleich war die ganze Erscheinung, welche Heinrich die schönäugigste und anmutigste Person dünkte, die er je gesehen, von so unverhohlener, natürlicher und doch kluger Freundlichkeit, daß er von dem Anblick ein neues Leben gewann, sich schnell aufrichtete und eine höfliche Verbeugung vor ihr machte. Aber indem er seinen nassen Hut schwenkte, fiel derselbe gänzlich zusammen, und er hielt den übel aussehenden wie ein schlechtes Symbol in der Hand. So stand er denn auch gar über und über mit Schlamm und Kot bedeckt vor der schönen Person, die ihn aufmerksam betrachtete, und er schlug höchst verlegen die Augen nieder und schämte sich vor ihr, indessen er doch ein wenig lächeln mußte, denn er gedachte sogleich wieder des unglückseligen Römer, welcher ihm einst den vor der schönen Nausikaa sich schämenden Odysseus poetisch erklärt hatte. Oh, dachte er, da es noch hie und da eine Nausikaa gibt, so werde ich auch mein Ithaka noch erreichen! Aber welch närrische Odysseen sind dies im neunzehnten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung!

      Diese Betrachtung dauerte aber nur einen Augenblick, und die liebliche Jungfrau sagte inzwischen zu dem unholden Kirchendiener »Was gibt es hier mit diesem Manne?«

      »Ei, gnädiges Fräulein!« erwiderte der Küster, »weiß Gott, was dies für ein Heide mag sein! Er will durchaus in der Kirche oder auf dem Kirchhof einschlafen; das kann doch nicht geschehen, und wenn er ein armer Landfahrer ist, so schläft er gewiß besser im Dorf in irgendeiner Scheune!«

      Die junge Dame sah den Heinrich an und sagte freundlich »Warum wollen Sie durchaus hier schlafen? Lieben Sie die Toten so sehr?«

      »Ach, mein Fräulein«, sagte Heinrich, indem er ziemlich furchtsam aufblickte, »ich hielt sie für die eigentlichen Inhaber und Gastgeber der Erde, die keinen Müden abweisen; aber wie ich sehe, so sind sie von den Lebendigen auch in dieser Hinsicht arg bevormundet und wird ihre Intention stets ausgelegt, wie es denen gefällt, die über ihren Köpfen dahingehen!«

      »Das sollen Sie nicht sagen«, erwiderte lieblich lachend das Fräulein, »daß wir hierzulande schlimmer gesinnt seien als die Toten! Wenn Sie sich nur erst ein bißchen ausweisen wollen und sagen, wie es Ihnen geht, so werden Sie uns Lebendige hier schon als leidliche Leute finden!«

      »Was meine Herkunft betrifft«, antwortete Heinrich und blickte sie jetzt sicher und ernsthaft an, »so bin ich sehr guter Leute Kind und eben im Begriff, sosehr ich kann, zu laufen, wo ich hergekommen bin. Ich bin aus der Schweiz, und seit mehreren Jahren habe ich als Künstler in der Hauptstadt dieses Landes gelebt, um zu entdecken, daß ich eigentlich kein Künstler sei. Dabei erging es mir übel, und ich begab mich ohne alle Mittel, wie ich ging und stand, auf den Heimweg, um mich zu bessern. Ich wünsche und hoffe aber, unbemerkt und ohne irgend den Menschen unterwegs auf- und lästig zu fallen, nach Hause zu kommen. Ich wollte ungesehen und unbemerkt in dieser Kirche die Nacht zubringen, da es so abscheuliches Wetter ist, und in aller Stille am Morgen wieder weiterziehen. Wenn hier ganz in der Nähe irgendein Vordach oder eine Hütte ist, denn weiter kann ich nicht mehr, so befehlen Sie, daß man mich dort ruhen läßt und tut, als ob ich gar nicht da wäre, und am Morgen werde ich dankbar wieder verschwunden sein.«

      Das Mädchen besann sich eine kleine Weile, den Fremden ansehend, und sagte dann mit unveränderter Freundlichkeit »Sie kommen mir zwar ganz fremd vor; doch wollt ich wetten, daß Sie jener junge Schweizer sind, der vor sechs Jahren mit uns in dem Gasthöfe zusammentraf, einige Stunden von hier, und der dann mit meinem Papa weiterfuhr nach der Residenz! Erinnern Sie sich nicht mehr des kleinen Hündchens, welchem Sie Kuchen gaben über den Tisch?«

      Heinrich sah jetzt das hochgewachsene schöne Frauenzimmer, das zwei- bis dreiundzwanzig Jahre zählen mochte, erstaunt an. Das also war jenes liebliche und freundliche Mädchenkind, und welch artiges Wunder, daß eben jetzt bei seinem traurigen Abzug aus Deutschland das gleiche Wesen in reifer Vollendung ihm entgegentreten mußte, das ihn bei seinem pompösen Einzug als angehende Grazie begrüßt hatte! Und wie wohlbestellt mußte dies Wesen im Gemüte sein, da es jene wahrhaft wohlgezogene Höflichkeit des Herzens besaß, welche auch das Gleichgültigste und Vorübergehendste nicht vergißt und jedem Menschenantlitz, so ihr einmal begegnet ist, ein freundliches unverhohlenes Gedächtnis entgegenbringt! Diese höfliche und aufmerksame Gemütsgegenwart erwärmte und