Готфрид Келлер

Gesammelte Werke von Gottfried Keller


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sondern bald wieder zu ihnen und zu der Mutter zurückzukehren. Die glückliche Festtagsruhe, in welcher er die zufriedenen und nach nichts weiter verlangenden Menschen antraf, trat ihm ans Herz, und er bat sie, seiner Mutter, die nun ganz allein sei, mit Rat und Tat beizustehen. Die ernsthaften Hausväter, den sonntäglichen Seifenschaum um Mund und Kinn, versicherten, daß seine Bitte unnötig sei, holten bedächtig aus ihren bescheidenen Pulten einen harten Taler hervor und drückten denselben dem Scheidenden mit diplomatischer Würde verdeckt in die Hand. Obgleich er, nach der Behauptung seiner Mutter, ein Obenhinaus war, so durfte er doch durch diese bürgerliche schöne Sitte sich nicht beleidigt finden. Auch lag ein rechter Segen in diesem sauer erworbenen und mit ernstem Entschlusse geschenkten Gelde; es schien Heinrich die ersten Tage seiner Reise hindurch, wo er es zuerst gebrauchte, um seine Hauptkasse zu schonen, als ob es gar nicht ausgehen wollte.

      Endlich saß er seiner Mutter beim Frühstück gegenüber, auf dem Stuhle, auf welchem der dreijährige Knabe schon geschaukelt hatte. Es war nun alles getan und vorbereitet; ein Mann hatte den Koffer nach der Post geholt – es war eine Totenstille in der Stube. Die Morgensonne umzirkelte die altertümlichen, ererbten Porzellantassen, welche Heinrich schon zwanzig Jahre lang durch die Hände seiner Mutter gehen sah, ohne daß je eine zerbrochen wäre. Es war ein feierlicher Moment gewesen, als er für würdig erfunden ward, sein Kinderschüsselchen mit einer dieser bunten und vergoldeten Tassen versuchsweise zu vertauschen.

      Frau Lee hätte ihrem Sohne noch gern allerlei gesagt; aber sie konnte mit ihm gar nicht sentimental sprechen, sowenig als er mit ihr. Endlich sagte sie schüchtern und abgebrochen:

      »Werde nur nicht leichtsinnig und vergiß nicht, daß wir eine Vorsehung haben! Denke an den lieben Gott, so wird er auch an dich denken, und mach, daß du bald etwas lernst und endlich selbständig werdest; denn du weißt genau, wieviel du noch zu verbrauchen hast und daß ich dir nachher nichts mehr werde schicken können, das heißt, wenn es dir übel ergehen sollte, so schreibe mir ja, solange du weißt, daß ich selbst noch einen Pfennig besitze, ich könnte es doch nicht ertragen, dich im Elend zu wissen.«

      Der Sohn schaute während dieser Anrede stumm in seine Tasse und schien nicht sehr gerührt zu sein. Die Mutter erwartete aber keine andern Gebärden, sie wußte schon, woran sie war, und fühlte sich etwas erleichtert. Ach, du lieber Himmel! dachte sie, eine Witwe muß doch alles auf sich nehmen; diese Ermahnungen zu erteilen, dazu gehört eigentlich ein Vater, eine Frau kann solche Dinge nicht auf die rechte Weise sagen; wenn das arme Kind nicht zurechtkommt, wie werde ich die Sorge mit dem gehörigen klugen Ernste vereinigen können?

      Heinrich aber war jetzt mit seinen Gedanken schon weit in der Ferne; die Neugierde, die Hoffnung, Lebens- und Wanderlust hatten ihn mächtig angewandelt, und die Ungeduld übernahm ihn. Er sprang auf und sagte »Jetzt muß ich gehen, leb wohl, Mutter!« Die Tränen stürzten ihr in die Augen, als sie ihm die Hand gab, und er fühlte, als er vor ihr her die vier Treppen hinabeilte, daß sein Gesicht ganz heiß wurde, aber er bezwang sich. Die Hausgenossen kamen auch noch unter die Haustüre, wo Heinrich allen zumal noch die Hand gab, ohne seine Mutter dabei stark auszuzeichnen, wenn man einen letzten flüchtigen und wehmütigen Blick, den er auf sie warf, ausnehmen will. Das Volk, das mit der äußeren Sorge sein Leben lang zu kämpfen hat, erweist sich selbst wenig sichtbare Zärtlichkeit. Von verwandtschaftlichen Umarmungen und Küssen ist wenig zu finden; niemand küßt sich als die Kinder und die Liebenden und selbst diese mit mehr Dezenz als die gebildete und sich bewußte Gesellschaft. Daß Männer einander küßten, wäre unerhört und überschwenglich lächerlich. Nur große Ereignisse und Schicksale können hierin eine Ausnahme bewirken.

      Als Heinrich Lee mit schnellen Schritten nach dem Posthause hinlief und einige Minuten darauf, oben auf dem schwerfälligen Wagen sitzend, über die Brücke und neben dem Flusse das enge Tal entlangfuhr, mit begeisterten Augen das offene Land erwartend, die Primel noch auf seiner Mütze da konnte dieser sonderbare Bursche für die Hälfte der Zuschauer etwas vorteilhaft Anregendes, aber gewiß auch für die andere Hälfte etwas ungemein Lächerliches haben. Feingefühlig und klug sah er darein, jedoch sein Äußeres war zugleich seltsam und unbeholfen. Was er eigentlich war und wollte, das müssen wir mit ihm selbst zuerst erfahren und erleben; daß man es in jenem Augenblick nicht recht wissen konnte, machte seiner Mutter genugsamen Kummer.

      Sie war auf ihre Stube zurückgekehrt. Ein tiefes Gefühl der Verlassenheit und der Einsamkeit überkam sie, und sie weinte und schluchzte, die Stirn auf den Tisch gelehnt. Der frühe Tod ihres Mannes, die Zukunft ihres sorglosen Kindes, ihre Ratlosigkeit, alles kam zumal über ihr einsames Herz. Ein mächtiges Ostermorgengeläute weckte und mahnte sie, Trost in der Gemeinschaft der vollen Kirche zu suchen. Schwarz und feierlich gekleidet ging sie hin; es ward ihr wohl etwas leichter in der Mitte einer Menge Frauen gleichen Standes; allein da der Prediger ausschließlich das Wunder der Auferstehung sowie der vorhergehenden Höllenfahrt dogmatisierend verhandelte, ohne die mindesten Beziehungen zu einem erregten Menschenherzen, so genoß die gute Frau vom ganzen Gottesdienste nichts als das Vaterunser, welches sie recht inbrünstig mitbetete, dessen innerste Wahrheit sie aufrichtete.

      Die Erinnerung an empfangene Liebe, als ein Zeugnis, daß man einmal im Leben liebenswürdig und wert war, ist es vorzüglich, welche die Sehnsucht nach der früheren Jugend nie ersterben läßt. Wer nicht das Glück hatte, eine aufknospende zarte und heilige Jugendliebe zu genießen, der hat dagegen gewiß eine treue und liebevolle Mutter gehabt, und in den spätern Tagen bringen beide Erinnerungen ungefähr den gleichen Eindruck auf das Gemüt hervor, eine Art reuiger Sehnsucht. Wer aber in jeder Weise verwaist und einsam aufgewachsen ist, der kann wohl sagen, daß er um einen Teil des Lebens zu kurz gekommen sei.

       Inhaltsverzeichnis

      Indem eine Grundlinie der Landschaft nach der anderen sich verschob und veränderte und aus dem heitern Ziehen und Weben ein ganz neuer Gesichtskreis hervorging, welcher allmählich wieder in einen neuen sich auflöste, war Heinrich, mit hellen Jugendaugen aufmerkend, seinem eigenen Wesen zurückgegeben. Die verlassene Mutter und Heimat bildeten wohl eine zarte und weiche Grundlage in seinem Gemüte; doch auf ihr spielten mit ungebrochenen Farben alle Bilder der neuen Welt, welche ihm aufging. Denn obgleich schon ziemlich die weite Welt in leicht erfaßten Bildern seinem innern Sinne vorbeigezogen war und besonders sein Künstlergedächtnis die Formen und Gestalten der fernsten Zonen bewahrte, so war ihm doch jetzt die kleinste Neuheit, welche durch jede weitere Stunde Wegs gebracht wurde, das Nächste und Wichtigste. Eine neue Art von bemalten Fensterladen oder Wirtshausschildern, eine eigentümliche Gattung von Brunnensäulen oder Dachgiebeln in diesem oder jenem Dorfe, besonders aber die bald vor-, bald seitwärts, bald fern, bald nah, immer frisch auftauchenden Bergzüge und Erdwellen machten ihm die größte Freude. Es war ein windstiller, lieblicher Frühlingstag. Lange Zeit sah er eine milde weiße Wolke über dem Horizonte stehen, zu seiner Rechten oder auch zur Linken, wie der Wagen eben fuhr; die sanften, bald fern blauen, bald nah grünen oder braunen Wogen der Erde flossen still darunter hin, sie aber blieb immer dieselbe, bis sie endlich, als er sie eine Weile vergessen hatte und wieder suchte, auch verschwunden war. Am meisten freute ihn jedoch, wenn er, immer mehr sich von der Geburtsstadt entfernend, stets noch an einem ihm unbekannten Orte ein bekanntes Gesicht vorübergleiten sah, das er sonst an Wochenmärkten oder Festtagen in der beschränkten Stadt bemerkt hatte; wohl zehn Stunden von zu Hause weg, sah er sogar an einem Brunnen noch ein schönes falbes Pferd trinken, welches ihm zu Hause schon öfters aufgefallen war, als vor ein buntes Wägelchen gespannt, auf welchem ein dicker Müller saß. Richtig ließ sich auch der Müller im Sonntagsstaate sehen, und Heinrich wußte nun, wo das falbe Pferd zu Hause war. Dieses waren alles noch Zeichen der Heimat, freundliche Begleiter und sozusagen die letzten Türsteher, welche ihn wohlwollend entließen.

      Aber nicht nur in der äußeren Umgebung, auch an sich selbst empfand er den Reiz eines neuen Lebens. Dann und wann begegnete ein reisender Handwerksbursch, ein alter zitternder Mann, ein verlaufenes bleiches Bettlerkind dem dahinrollenden Wagen. Während keiner der andern Reisenden sich regte, wenn die demütig Flehenden mühsam eine Weile neben dem schnellen Fuhrwerke hertrabten, suchte Heinrich immer mit eifriger Hast seine Münze hervor und