damit Euch über vermeintlichen trüben Erfahrungen nicht dieser schöne Tag zuschanden gehe; zudem habt Ihr noch nicht einmal jenes Jugendalter erreicht, welches ich eigentlich meine, und da Ihr schon so kräftig zu tadeln wißt, so versteht Ihr gewiß noch ebensogut zu lernen. Vor allem freut es mich, Euch in betreff der beiden Männer, welche soeben weggingen, Euern Mut wiederaufzurichten; es mögen allerdings nicht alle gleich sein in unserm Schweizerlande; doch vom Herrn Kantonsrat sowohl wie vom Leuenwirt mögt Ihr sicher glauben, daß sie Hab und Gut sowohl dem Lande in Gefahr hingeben als es einer für den andern opfern würde, wenn er ins Unglück geriete, und das vielleicht gerade desto unbedenklicher, als der andere sich heut kräftiger um die Straße gewehrt hat. Sodann merkt Euch für Eure künftigen Tage wer seinen Vorteil nicht mit unverhohlener Hand zu erringen und zu wahren versteht, der wird auch nie imstande sein, seinem Nächsten aus freier Tat einen Vorteil zu verschaffen! Denn es ist (hier schien sich der Statthalter mehr an den Schulmeister zu wenden) ein großer Unterschied zwischen dem freien Preisgeben oder Mitteilen eines erworbenen, errungenen Gutes und zwischen dem trägen Fahrenlassen dessen, was man nie besessen hat, oder dem Entsagen auf das, was man zu schwächlich ist zu verteidigen. Jenes gleicht dem wohltätigen Gebrauche eines wohlerworbenen Vermögens, dieses aber der Verschleuderung ererbter oder gefundener Reichtümer. Einer, der immer und ewig entsagt, überall sanftmütig hintenansteht, mag ein guter harmloser Mensch sein; aber niemand wird es ihm Dank wissen und von ihm sagen dieser hat mir einen Vorteil verschafft! Denn dieses kann, wie schon gesagt, nur der tun, der den Vorteil erst zu erwerben und zu behaupten weiß. Wo man dies aber mit frischem Mute und ohne Heuchelei tut, da scheint mir Gesundheit zu herrschen und gelegentlich ein tüchtiger Zank um den Vorteil ein Zeichen von Gesundheit zu sein. Wo man nicht frei heraus für seinen Nutzen und für sein Gut einstehen kann, da möchte ich mich nicht niederlassen; denn da ist nichts zu erholen als die magere Bettelsuppe der Verstellung, der Gnadenseligkeit und der romantischen Verderbnis, da entsagen alle, weil allen die Trauben zu sauer sind, und die Fuchsschwänze schlagen mit bittersüßem Wedeln um die dürren Flanken. Was aber die Meinung der Fremden betrifft (hier wandte er sich wieder mehr an mich), so werdet Ihr einst auf Euern Reisen lernen, weniger darauf zu achten. Man macht den Engländern und den Amerikanern die gleichen Vorwürfe der Engherzigkeit, des Eigennutzes; uns, die wir als kleine Schar unter den Tadlern leben, hängt man scharfsinnigerweise noch die Kleinlichkeit an; wenn Ihr aber einst die Grenzen überschreitet, so werdet Ihr erleben, daß der große Sinn nicht mit den Quadratmeilen zunimmt und, wo etwas dergleichen in den Lüften zu schweben scheint, es eigentlich nur ein trügerischer Wolkenmantel der Unentschlossenheit und der Verzweiflung ist.«
Nach dieser Rede schüttelte uns der Statthalter die Hände und entfernte sich. Ich war indessen nicht überzeugt worden, sowenig als dem Schulmeister die Wendung des Gesprächs zu behagen schien. Doch kamen wir darin überein, daß er ein liebenswürdiger und kluger Mann sei, und indem ich ihm, mich durch seine Ansprache geehrt fühlend, wohlwollend nachblickte, pries ich ihn gegen den Schulmeister als einen verdienstvollen und daher gewiß glücklichen Mann. Der Schulmeister schüttelte aber den Kopf und meinte, es wäre nicht alles Gold, was glänze. Er hatte seit einiger Zeit angefangen, mich zu duzen, und fuhr daher jetzt fort »Da du ein nachdenklicher Jüngling bist, so gebührt es dir auch, früher als viele einen Blick in das Leben der Menschen zu gewinnen; denn ich halte dafür, daß die Kenntnis recht vieler Fälle und Gestaltungen jungen Leuten mehr nützt als alle moralischen Theorien; diese kommen erst dem Manne von Erfahrung zu, gewissermaßen als eine Entschädigung für das, was nicht mehr zu ändern ist. Der Statthalter eifert nur darum so sehr gegen das, was er Entsagung nennt, weil er selbst eine Art Entsagender ist, das heißt weil er selbst diejenige Wirksamkeit geopfert hat, die ihn erst glücklich machen würde und seinen Eigenschaften entspräche. Obgleich diese Selbstverleugnung in meinen Augen eine Tugend ist und er in seiner jetzigen Wirksamkeit so verdienstlich und nützlich dasteht, als er es kaum anderswie könnte, so ist er doch nicht dieser Meinung, und er hat manchmal so düstere und prüfungsreiche Stunden, wie man es seiner heiteren und freundlichen Weise nicht zumuten würde. Von Natur nämlich ist er ebenso feuriger Gemütsart als von einem großen und klaren Verstande begabt und daher mehr dazu geschaffen, im Kampfe der Grundsätze beim Aufeinanderplatzen der Geister einen tapfern Führer abzugeben und im großen Menschen zu bestimmen, als in ein und demselben Amte ein stehender Verwalter zu sein. Allein er hat nicht den Mut, auf einen Tag brotlos zu werden, er hat gar keine Ahnung davon, wie sich die Vögel und die Lilien des Feldes ohne ein fixes Einkommen nähren und kleiden, und daher hat er sich der Geltendmachung seiner eigenen Meinungen begeben. Schon mehr als einmal, wenn durch den Parteienkampf Regierungswechsel herbeigeführt wurden und der siegende Teil den unterlegenen durch ungesetzliche Maßregeln zwacken wollte, hat er sich wie ein Ehrenmann in seinem Amte dagegen gestemmt, aber das, was er seinem Temperament nach am liebsten getan hätte, nämlich der Regierung sein Amt vor die Füße zu werfen, sich an die Spitze einer Bewegung zu stellen und mittelst seiner Einsicht und seiner Energie die Gewalthaber wieder dahin zu jagen, von wannen sie gekommen das hat er unterlassen, und dies Unterlassen kostet ihn zehnmal mehr Mühe und Bitterkeit als seine ununterbrochene arbeitsvolle Amtsführung. Den Landleuten gegenüber braucht er nur zu leben, wie er es tut, um in seiner Würde fest zu stehen. Bei den Behörden aber und in der Hauptstadt braucht es manches verbindliche Lächeln, manche wenn auch noch so unschuldige Schnörkelei, wo er lieber sagen würd: ›Herr! Sie sind ein großer Narr!‹ oder ›Herr! Sie scheinen ein Spitzbube zu sein!‹ Denn wie gesagt, er hat ein dunkles Grauen vor dem, was man Brotlosigkeit nennt.«
»Aber zum Teufel!« sagte ich, »sind denn unsere Herren Regenten zu irgendeiner Zeit etwas anderes als ein Stück Volk, und leben wir nicht in einer Republik?«
»Allerdings, mein lieber Sohn!« erwiderte der Schulmeister; »allein es bleibt eine wunderbare Tatsache, wie besonders in neuerer Zeit ein solches Stock Volk, ein repräsentativer Körper durch den einfachen Prozeß der Wahl sogleich etwas ganz merkwürdig Verschiedenes wird, einesteils immer noch Volk und andernteils etwas dem ganz Entgegengesetztes, fast Feindliches wird. Es ist wie mit einer chemischen Materie, welche durch das bloße Eintauchen eines Stäbchens, ja sogar durch bloßes Stehen auf geheimnisvolle Weise sich in ihrem ganzen Wesen verändert. Manchmal will es fast scheinen, als ob die alten patrizischen Regierungen mehr den Grundcharakter ihres Volkes zu zeigen und zu bewahren vermochten. Aber lasse dich ja nicht etwa verfahren, unsere repräsentative Demokratie nicht für die beste Verfassung zu halten! Besagte Erscheinung dient bei einem gesunden Volke nur zu einer wohltätigen Heiterkeit, da es sich mit aller Gemütsruhe den Spaß macht, die wunderbar verwandelte Materie manchmal etwas zu rütteln, die Phiole gegen das Licht zu halten, prüfend hindurchzugucken und sie am Ende doch zu seinem Nutzen zu verwenden.«
Den Schulmeister unterbrechend, fragte ich, ob denn der Statthalter als ein Mann von solchen Kenntnissen und solchem Verstande sich nicht reichlicher durch eine Privattätigkeit ernähren könnte als durch ein Amt? Worauf er antwortete »Daß er dies nicht kann oder nicht zu können glaubt, ist wahrscheinlich eben das Geheimnis seiner Lebenslage! Der freie Erwerb ist eine Sache, für welche manchen Menschen der Sinn sehr spät, manchen gar nie aufgeht. Vielen ist es ein einfacher Tick, dessen Verständnis ihnen durch ein Handumdrehen, durch Zufall und Glück gekommen, vielen ist es eine langsam zu erringende Kunst. Wer nicht in seiner Jugend durch Übung und Vorbild seiner Umgebung, sozusagen durch die Überlieferung seines Geburtshauses, oder sonst im rechten Moment den rechten Fleck erwischt, wo der Tick liegt, der muß manchmal bis in sein vierzigstes oder funfzigstes Jahr ein umhergeworfener und bettelhafter Mensch sein, oft stirbt er als ein sogenannter Lump. Viele Personen des Staates, welche zeitlebens tüchtige Angestellte waren, haben keinen Begriff vom Erwerbe; denn alle öffentlich Besoldeten bilden unter sich ein Phalansterium, sie teilen die Arbeit unter sich, und jeder bezieht aus den allgemeinen Einkünften seinen Lebensbedarf ohne weitere Sorge um Regen oder Sonnenschein, Mißwachs, Krieg oder Frieden, Gelingen oder Scheitern. Sie stehen so als eine ganz verschiedene Welt dem Volke gegenüber, dessen öffentliche Einrichtung sie verwalten. Diese Welt hat für solche, die von jeher darin lebten, etwas Entnervendes in bezug auf die Erwerbsfähigkeit. Sie kennen die Arbeit, die Gewissenhaftigkeit, die Sparsamkeit, aber sie wissen nicht, wie die runde Summe, welche sie als Lohn erhalten, im Wind und Wetter der Konkurrenz zusammengekommen ist. Mancher ist sein Leben lang ein fleißiger Richter und Exekutor in Geldsachen gewesen, der es nie dazu brächte, einen Wechsel auf seinen Namen in Umlauf zu setzen. Wer essen will, der