vermute, dass sie damals ganz bewusst versteckt und archiviert wurden, um sie für die Nachwelt zu erhalten.
Eine der Schusterkugeln ist besonders spannend. Sie besteht aus insgesamt vier Glasballons, die früher rund um eine Kerze auf Lederriemen in einem Holzrahmen hingen. Die größte Kugel war für den Meister, die mittelgroße vis-à-vis galt dem Gesellen, und die zwei kleinsten Kugeln auf den Seiten links und rechts erleuchteten den beiden Lehrlingen den Platz. Das Sinnbild des Lehrlings, der sich quasi am Licht hocharbeitet, finde ich großartig. Das ist ein wunderschönes, respektvolles Bild für Hierarchie im Beruf. Eine Karriereleiter am Licht. Und am Ende gibt es die Erleuchtung. Ich finde es erstaunlich, dass wir 100 − 200 Jahre später zwar mit elektrischem Licht und neuen Medien arbeiten, dass sich an der Arbeitsweise im Grunde genommen aber nichts verändert hat.
Überhaupt ist die alte Werkstatt, die man über eine kleine, nicht allzu hohe Tür unter der Treppe betritt, für mich so etwas wie eine Offenbarung, wie ein Tor in die Tiefen dieses Handwerks. Hier schlummert die 200 Jahre alte Geschichte der Schuhmacherfamilie Scheer. Ich habe den Raum bewusst so beibehalten, wie ich ihn als Kind und Jugendlicher erlebt habe – als Museum, als verstaubte Kammer, als Schatten einer längst vergangenen Zeit. Die Einrichtung, die alten Werkzeuge, ja sogar die Leisten und halbfertigen Schuhe, die hier seit Jahrzehnten herumliegen, sind Zeitzeugen aus nunmehr sieben Generationen Scheer. Es wäre schön, wenn auch die achte und neunte Generation noch diesen Schatz zu schätzen wissen würde.
Ich habe vor diesem Zimmer hinter der Tür unter der Treppe unendlichen Respekt. Als Kind, kann ich mich erinnern, habe ich mich hier unten immer gefürchtet. Der Raum hatte immer etwas Dunkles und Düsteres für mich. Etwas Geister- und Gespensterhaftes. Und in gewisser Weise spukt es hier noch immer. In den alten Nussschränken gibt es über 4.000 Leisten, also 2.000 Leistenpaare – rund 1.000 Leisten von lebenden Menschen, und weitere tausend von bereits Toten. Auch heute noch verfalle ich, sobald ich den Raum betrete, in eine gewisse Ehrfurcht vor der Geschichte, weil mir, sobald ich die Leistenschränke öffne, auf einen Schlag 2.000 Persönlichkeiten in die Augen und auf die Finger schauen.
Zu den Kunden des Hauses zählten in erster Linie Bürgerliche, Adelige, Großindustrielle und Menschen aus kreativen Berufen wie etwa Künstler, Erfinder, Architekten, Opernsänger, Komponisten. In der Kundenkartei, die bis zum Gründungsjahr 1816 zurückreicht, finden sich beispielsweise Kaiser Karl, Kaiser Franz Joseph, Kaiser Wilhelm II, Kronprinzessin Stephanie von Österreich, König Milan von Serbien, König Georg von Griechenland, Baron Alfons Rothschild sowie etliche Habsburger. Aber es gibt auch bürgerliche Namen wie etwa die Burgschauspielerin Else Wohlgemuth, die Opernsängerin Jarmila Novotná, die Maler Kurt Kocherscheidt und Jörg Immendorff sowie den kürzlich verstorbenen Künstler und Architekten Walter Pichler. Von all diesen Menschen haben wir immer noch die Leisten im Haus.
Zu manchen Kundinnen und Kunden gibt es noch die Original-Maßblätter mit Maßskizzen, Anmerkungen und Lieferadressen. Auf einem der Bestellblätter ist als Zustelladresse die Kaiservilla in Bad Ischl verzeichnet. Was für eine Handschrift! Und in den seltensten Fällen kamen in unserem Archiv sogar noch Schuhe zum Vorschein. So wie etwa von Kronprinzessin Stephanie, von der sich zwei Paar Schuhe in unserem Besitz befinden. Immer wieder passiert es nämlich, dass wir in Testamenten und Verlassenschaften erwähnt werden und dass uns unsere Kunden ihre alten Scheer-Schuhe vermachen. In all der Zeit hat sich ein wunderschöner Schatz angesammelt.
Die Fußstapfen der Geschichte, in die ich in siebenter Generation hineintreten durfte, sind groß. Sehr groß sogar. Das ist ein schönes, aber auch verantwortungsvolles Erbe. Der erste Scheer, der in die Schuhproduktion einstieg, war mein Ururururgroßvater Johann. Das war 1816, vor mittlerweile 200 Jahren. Damals befand sich der Betrieb noch in der Leopoldstadt, also vor den Toren der Wiener Innenstadt. In zweiter Generation übersiedelten die Scheers dann in die Bräunerstraße 4, nur ein paar Schritte von der Hofburg entfernt. Zugleich wurde der gesamten Familie Scheer das Bürgerrecht verliehen, was sicherlich nicht nur für das Image und den Stolz der Familie, sondern auch für das gesellschaftliche Standing und letztendlich auch für den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens von Bedeutung war.
Die Energie, die mit der Übersiedelung in die Innenstadt frei wurde, muss gewaltig gewesen sein. In kürzester Zeit konnte sich der Familienbetrieb in der Wiener Hautevolee etablieren. Aus den alten, großen, querformatigen Bestellbüchern im Archiv – das älteste stammt aus dem Jahr 1852 – lässt sich herauslesen, wie die Kundenfrequenz immer größer und größer wurde. Ich habe die Bücher in meinen Anfangsjahren hier im Haus mit einer Faszination gelesen, als hielte ich einen Krimi in Händen. Da findet man Maßblätter mit Skizzen und ganz genauen Fußmaßen, da sind Daten, Preise und Zahlungskonditionen festgehalten, da ist man plötzlich auf Tuchfühlung mit Franz Kafka, Robert Stolz und Ralph Benatzky. Manchmal habe ich das Gefühl, ich kann den Damen und Herren in den Schachteln Hallo sagen. Da ist ganz viel Gänsehaut dabei.
Am Übergang von der zweiten zur dritten Generation wurde Scheer zum offiziellen kaiserlich-königlichen Hoflieferanten. Damit brach eine gänzlich neue Ära an. Denn plötzlich belieferte Scheer die Hofburg, den Kaiser, den Regierungsstab, den Reiterhof und sämtliche Könige, Fürsten und Herzoge in den Provinzen. Mein Ururgroßvater Rudolf Scheer, seines Zeichens Schuhmacher in der dritten Generation, muss viele Male in der Hofburg gewesen sein, was ich aus den Erzählungen meines Großvaters Carl Ferdinand weiß. Und so manches Mal ist er dabei auf den Kaiser Franz Joseph I höchstpersönlich gestoßen, als er ihn zum Maßnehmen und zur Anprobe besuchte. Als einer von ganz Wenigen durfte Rudolf Scheer beim Verlassen des Raumes dem Kaiser den Rücken zukehren. Das war ein Privileg!
Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs und dem gleichzeitigen Ende der Monarchie hat sich – quasi von einem Tag auf den anderen – ein enorm wichtiger Kundenstock in Luft aufgelöst. Mit dem Zweiten Weltkrieg ist dann auch noch die wohlhabende jüdische Kundschaft weggebrochen. In dieser Zeit hat sich ein spannender Umbruch vollzogen, denn plötzlich produzierte Scheer Stiefel und diverse andere Lederartikel für die Front.
Es ist ein großes Glück, dass das Haus während der Kriegsjahre – bis auf einen kleinen Brand – keinerlei Schaden davongetragen hat. Das gesamte Archiv samt Werkzeugen, Leder, Leisten und historischer Schuhsammlung hat den Zweiten Weltkrieg fast unbeschadet überstanden. Und auch das schöne Holzportal mit der Hinterglasmalerei und den goldenen Lettern meines Ururgroßvaters Rudolf Scheer ist ohne eine einzige Schramme erhalten geblieben. Es steht bis heute.
In den Nachkriegsjahren produzierte Scheer zum Teil für die Besatzungsmächte. Britische, französische, russische, amerikanische Alliierte – sie alle gingen in diesem Haus ein und aus. Eine große Herausforderung zu dieser Zeit war die Orthopädie, denn die Soldaten und Zivilisten mit Kriegsverletzungen mussten nachhaltig versorgt werden. Und so hat sich mein damals noch junger Großvater in den 50er- und 60er-Jahren mehr und mehr zum regelrechten Orthopädie-Pionier entwickelt. Er spezialisierte sich darauf, die orthopädische Maßnahme unsichtbar beziehungsweise in der bestmöglichen ästhetischen Variante in den Schuh zu integrieren. Dieser Ansatz war eine Revolution.
Durch die Verschmelzung von formalen, funktionalen und medizinischen Maßnahmen hat mein Großvater zunehmend auch die Damenwelt erobert. In Zusammenarbeit mit der Wiener Modedesignerin Trude Höchsmann entwarf er damals über viele Jahre hinweg Gesamtkonzepte vom Scheitel bis zur Sohle. Aus seinen Erzählungen weiß ich, dass die beiden immer wieder Prêt-à-porter-Shows veranstaltet haben. Es war die Zeit, als Wien europäische Modemetropole war. Es müssen glorreiche Jahre voller Elan und Visionen gewesen sein.
Innerhalb von etwas mehr als drei Jahrzehnten – vom Ende der k.u.k. Monarchie über die Zeit des Nationalsozialismus bis hinein in die Fifties und Sixties – hat das Unternehmen Scheer also mehrere Schicksalsschläge und mehrere radikale Neuerfindungen und Neupositionierungen durchgemacht. Meine Vorfahren waren zähe, anpassungsfähige Charaktere.
Eines Tages in den 70er-Jahren ergab es sich, dass auch der kleine Markus Scheer zum Kunden dieses Hauses wurde. Schon als Schulkind durfte ich Scheer-Schuhe tragen – und ich habe sie nicht immer geliebt. Auf den ersten Blick haben die Schuhe ausgesehen wie klassische, dunkelblaue, lässig-leger geschnittene Clarks. Es waren knöchelhohe, orthopädisch perfekt geformte Gesundheitsschuhe. Nur leider wurden sie aus den letzten Lederresten zusammengenäht, die sonst niemand wollte. Hässliche Mittelbrauntöne,