gehörten, deren Erziehung alles zu wünschen übrig ließ. Hulda, die auf der andern Seite neben Frauke saß, bekam eine Nachbarin, die wie eine vom Tod vergessene Gouvernante anmutete in ihrem vorsintflutlichen Habit.
Denn sie trug tatsächlich noch eine Hemdbluse mit steifgestärktem Kragen nebst Krawatte, einen langen Rock und ein Pincenez, wie man es vor einem halben Jahrhundert von wegen der vornehmen Note trug. Selbst von solchen, die eine Brille nicht benötigten und Fensterglas in die bügellose, oft sogar goldene Fassung setzen ließen. Und da der Volksmund ja zu allen Zeiten solche Schwächen zu glossieren pflegte, so prägte er den Ausspruch: Ohne Brill’ ist nichts zu machen, ohne Pincenez kein Sonntag.
Der Zug hielt, ein Herr betrat das Abteil, der höflich grüßte, die Mitreisenden flüchtig musterte, dann Platz nahm und sich gleich hinter einer großen Zeitung verschanzte. Somit sah man nur seine langen Beine, die in einer tadellosen Hose steckten.
Die altmodische Dame machte ein Nickerchen, im wahrsten Sinne des Wortes. Denn immer wieder nickte sie im Schlaf, wobei der Kneifer lustig mitwippte. Es war ein so drolliges Bild, daß Frauke ihre beiden Begleiterinnen darauf aufmerksam machte.
Sie hatten keine Ahnung, daß sie von dem andern Herrn über die Zeitung weg beobachtet wurden, da sie keine Notiz von ihm nahmen. Daher entging ihnen das stillvergnügte Schmunzeln, mit dem er alles ringsum in sich aufnahm.
Als der Zug wieder einmal seine Fahrt verlangsamte, warf Frauke einen Blick auf ihre Armbanduhr.«
»Ich glaube, wir sind am Ziel«, sagte sie hastig. »Halten wir uns bereit.«
Und damit taten sie recht. Denn kaum, daß sie in ihre Mäntel geschlüpft waren und nach dem Gepäck gegriffen hatten, hielt der Zug auf der Station, wo sie ihn verlassen mußten. Der erste Teil ihrer bestimmt nicht langweiligen Reise war geschafft.
*
Auf dem Bahnsteig bat Frauke einen Beamten, ihr den Weg zur Kleinbahn zu beschreiben. Dann schlossen sie sich dem Menschenstrom an, der zur Sperre strebte, dann durch die Bahnhofshalle dem Ausgang zu. Dort blieben sie zuerst einmal stehen und sahen sich das muntere Treiben an, das allen drei neu war, weil sie noch fast gar nicht gereist waren.
Auf dem weiten Platz standen Privatautos, Taxis und Omnibusse, zu denen die Menschen eilten. Alle hurtig, alle voll Hast. Ein Gefährt nach dem andern fuhr ab, bis der Platz leer war.
»So, denn wollen wir mal«, sagte Frauke vergnügt. »Wie hat der Beamte gesagt: durch das Bahnhofsportal auf die Straße, dort rechtsum und fünf Minuten lang der Nase nach. Tun wir also.«
So zogen sie denn los, frohgemut und mit leichtem Gepäck; denn das große hatten sie aufgegeben. Führten nur im Köfferchen das mit, was unbedingt notwendig war. Schon von weitem sahen sie den Zug, der bereits unter Dampf stand. Sie waren noch nie in so einem Bähnlein gefahren und freuten sich nun darauf, wie sie sich über alles und jedes freuten, in ihrer Unverwöhntheit. Wie war doch das alles so reizvoll und interessant.
Nachdem Frauke die Fahrkarten gelöst hatte, suchte man nach einem Abteil zweiter Klasse, welches man als einziges an diesem Züglein fand und das jetzt noch unbesetzt war. Frauke und Ortrun nahmen die Fensterplätze ein, Hulda placierte sich neben erstere, also saß man genauso wie vorher im D-Zug. Später bekam Ortrun eine Nachbarin, die für ihre Behäbigkeit soviel Platz brauchte, daß sie das grazielle Persönchen in die Ecke drückte. Ihr frisches Vollmondgesicht drückte dabei so viel Wohlwollen und Güte aus, daß man ihr nicht böse sein konnte.
Die noch Zusteigenden waren alle miteinander bekannt und unterhielten sich zwanglos. Immer wieder gingen ihre Blicke verstohlen zu den drei Fremdlingen hin, in denen sie Feriengäste vermuteten, obwohl Mitte März noch keiner das idyllische Dorf aufzusuchen pflegte. Warum diese es taten, hätten sie zwar brennend gern gewußt, aber man fragte natürlich nicht. Man hatte ja schließlich Erziehung – o bitte sehr!
Mit einem grellen Pfiff setzte sich das Bähnlein prustend und schnaubend in Bewegung.
Nachdem man eine knappe Stunde gefahren war, hielt der Zug nicht vor der üblichen Wellblechbude, wie kleine Stationen sie aufwiesen, sondern vor einem roten Backsteinhäuschen, und schon hörte man von draußen die Stimme des Schaffners:
»Grünergrund – Endstation!«
Es waren nicht mehr viele Passagiere, die ausstiegen, die meisten hatten den gutbesetzten Zug schon unterwegs verlassen. Zu Fuß verließ man den kleinen Bahnhof, nur die gewichtige Dame ging auf ein Gefährt zu, in dessen Deichsel ein wohlgenährter Brauner steckte. Doch unterwegs verhielt sie den Schritt und sah zu den drei Fremdlingen hin, die unschlüssig dastanden.
»Nanu, meine Damen, werden Sie nicht abgeholt?« fragte sie verwundert. »Der Friedrich von der ›Grünen Gans‹ pflegt doch sonst pünktlich zu sein.«
»Grüne Gans?« fragte Frauke lachend. »Die muß aber noch sehr jung sein.«
»O nein«, schmunzelte die Dicke. »Sie ist im Gegenteil schon recht betagt, aber ganz nett auf komfortabel zurechtgestutzt. Die ›Grüne Gans‹ ist nämlich das hübscheste Hotel in unserm grünen Dorf. Ja, ja, meine Damen, bei uns ist alles grün. Da kann es einem niemals schwarz vor den Augen werden.«
Jetzt lachte man ein fröhliches Quartett, und dann fragte Frauke nach dem Weg zum Gemeindeamt.
»Das ist hier ganz in der Nähe«, gab die stattliche Dame Auskunft, ihre Neugierde dabei heroisch unterdrückend. »Gehen Sie die Straße rechts hinunter bis zum Marktplatz, überqueren Sie ihn und marschieren Sie direkt in das große Haus, das zur Abwechslung weiß ist. Dann sind Sie am Ziel. Kapiert?«
»Auf Anhieb. Besser hätten Sie es gar nicht erklären können, gnädige Frau.«
»Das freut mich. Also dann alles Gute, meine Damen.«
Ihnen freundlich zunickend kugelte sie ab und stieg mit einer Behendigkeit in den Wagen, die für ihre Körperfülle erstaunlich war. Der Kutscher ließ die Peitschenschnur sacht über den blanken, breiten Rücken des Braunen spielen, der sich darob gemächlich in Bewegung setzte.
»Das nennt man Gemütlichkeit«, lachte Frauke. »Ich glaube, in diesem idyllischen grünen Dorf reißt sich keiner ein Beinchen aus. Und nun auf zum Herrn Gemeindevorsteher. Wollen wir uns von ihm überraschen lassen.«
So zog man denn vergnügt von dannen und nahm entzückt das schmucke Bild in sich auf. Das ganze Dorf war blitzsauber. Zusammengebaute Häuser gab es in dieser mit Bäumen umsäumten Straße nicht, die sehr lang zu sein schien, die rechts einen Bürgersteig, links einen Fahrradweg aufwies. Zwischendurch erstreckte sich eine glatte Asphaltstraße.
Jedes Haus war von einem Garten umschlossen, den ein grüner Staketenzaun von dem Nachbargrundstück trennte. Ein schmuckes Dorf, ein gepflegtes Dorf.
Der Marktplatz war im Viereck von Gebäuden abgeschlossen. In der Mitte plätscherte ein Springbrunnen, umrandet von Blumenbeeten. Die Bürgersteige säumten alte, prächtige Lindenbäume. Zwei davon standen vor dem Gemeindeamt wie stumme Wächter.
Die Gans war tatsächlich grün, die auf ein Schild gemalt war, das über dem Eingang des schmucken Hotels lustig baumelte. Geschäft reihte sich an Geschäft; denn der große Marktplatz war Zentrum.
Der Gemeindevorsteher, ein jovialer Herr mit kräftiger Gestalt, frischem Gesicht und angegrautem Borstenkopf ging den Eintretenden zögernd entgegen.
»Guten Tag. Wenn ich nicht irre, sind Sie die von dem Notar Doktor Danz avisierten Damen?«
»Stimmt«, entgegnete Frauke liebenswürdig. »Ich bin Frauke Gortz, das ist Fräulein Hulda Selk und das Fräulein Ortrun Danz.«
Nachdem die Begrüßung erfolgt war, nahm man an einem runden Tisch Platz, und ohne Aufforderung legten die Mädchen ihre Ausweise nebst einer polizeilichen Bestätigung vor. Der Gemeindevorsteher prüfte die Papiere sorgfältig und reichte sie dann mit verbindlichem Lächeln zurück.
»Danke, meine Damen, alles in Ordnung. Hm – ja, wollen Sie denn das ererbte Haus beziehen?«
»Warum denn nicht?«