der Psychoanalytischen Bewegung von Wien nach Zürich zu verlegen.
Eine etwas unrühmliche Dreiecksgeschichte verbindet Freud und Jung im Fall der Russin Sabina Spielrein (1885–1941). Im Jahr 1904 als Jungs Patientin ans Burghölzli gekommen, hat Spielrein nach ihrer Entlassung in Zürich ein Medizinstudium aufgenommen, sie arbeitet an Jungs Projekten mit und wird später selbst Analytikerin. Zwischen Jung und Spielrein entwickelt sich eine Liebesbeziehung, wobei der tatsächliche Grad der Intimität unbekannt ist. Ab 1906 ersucht Jung mehrmals bei Freud um Hilfe, wobei er Spielrein als eine in ihren Therapeuten verliebte Patientin darstellt – eine Sicht, die Freud zunächst ungeprüft übernimmt. Erst als sich Spielrein selbst an den Begründer der Psychoanalyse wendet, ändert der seine Sicht und nimmt nun auch Jungs Verstricktheit wahr. Spielrein, die als Jüdin davon träumt, mit Freud und Jung das Juden- und das Christentum miteinander versöhnen zu können, wird nach ihrer Trennung von Jung zur Freudianerin. Gleichwohl bleibt sie Jung verbunden.
1909 verlässt dieser nach einem Zerwürfnis mit Bleuler das Burghölzli und eröffnet in Küsnacht am Zürichsee seine Privatpraxis. 1923, im Todesjahr seiner Mutter, wird Jung in Bollingen am oberen Zürichsee mit dem eigenhändigen Bau eines erst 1955 vollendeten Turms beginnen, der ihm lebenslang als Rückzugs- und Meditationsort dient. Im Herbst 1909 geht er mit Freud und weiteren Freud-Schülern auf eine sechswöchige Vortragsreise in die USA. Beim gegenseitigen Deuten der Träume werden in dieser Zeit erste inhaltliche Unterschiede zwischen Freud und seinem »Kronprinzen« Jung deutlich. Dennoch wirkt Jung am Aufbau der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung mit und wird 1910 sogar ihr Präsident. Drei Jahre später kommt es zum Bruch mit Freud. Jung tritt aus der Vereinigung aus, gibt auch seine Privatdozentur an der Universität Zürich auf und zieht sich vollkommen zurück. Er durchlebt bis 1919 eine schöpferische Krise. 1921 tritt er mit seinem Buch »Psychologische Typen« wieder an die Öffentlichkeit und entwickelt nun seine eigene tiefenpsychologische Richtung. Er beschäftigt sich ausgiebig mit alten alchemistischen Texten, mit Märchen, Mythen und Religionen, mit der Ethnologie und mit fernöstlichen Weisheitslehren. Zu diesem Zweck reist er neben seiner praktisch-therapeutischen Tätigkeit viel: nach Nordafrika, nach Arizona und Neu Mexiko, nach Kenia und Uganda sowie nach Indien. Die gesammelten Erkenntnisse fließen in sein Denken ein.
Aufgrund seiner Publikationen wird Jung zunehmend bekannt. Ab 1933 lehrt er für einige Jahre als Professor für Allgemeine Psychologie an der Universität Zürich. Eine 1944 übernommene Professur für Medizinische Psychologie an der Universität Basel hat er aus Krankheitsgründen nur kurz inne. Als er während der Zeit des Nationalsozialismus Freuds Psychoanalyse als »jüdische Irrlehre« angreift, zieht er die Kritik vieler Intellektueller auf sich.
1948 wird in Küsnacht das C. G. Jung-Institut als Ausbildungsstätte für Psychotherapie gegründet. Carl Gustav Jung stirbt 1961 hoch geehrt in Küsnacht, kurz nachdem er sein zunächst auf Englisch erschienenes Buch »Der Mensch und seine Symbole« (dt. 1968) vollendet hat.
IDEEN
Carl Gustav Jung ist neben Freud und Alfred Adler (s. Kap. 7 u. 8) einer der wichtigsten Vordenker der Tiefenpsychologie. Zur Unterscheidung von der Psychoanalyse Freuds wählt er nach dem Ende der Zusammenarbeit für sein eigenes System den Begriff »Analytische Psychologie«. In späteren Jahrzehnten nennt Jung sein Theoriegebäude auch »Komplexe Psychologie«. Tatsächlich sind die so genannten Komplexe ein wichtiger Bestandteil dieser Lehre.
Seine Komplextheorie entwickelt Jung während der Zeit am Burghölzli. Die Bewusstseinspsychologie der Ära Wilhelm Wundts (s. Kap. 3) verstand unter einem Komplex eine Gruppe von fest verbundenen Gedächtnisinhalten. Später galten auch Gefühle, weil sie sich nicht näher zergliedern ließen, als Komplexe. Bei Jung, der den Begriff in die Psychoanalyse einführt, kehren die beiden Aspekte wieder. Nach ihm besteht ein Komplex aus einem Kernstück, beispielsweise einer bestimmten Angst oder einem Bedürfnis, sowie aus sekundären Gefühlen, Gedanken, Wahrnehmungen und Erinnerungen, die aufgrund ihrer Verwandtschaft mit dem Kernstück von ihm angezogen worden sind. Je größer ein Komplex, desto mehr Energie besitzt er. Komplexe wirken abgespalten vom Bewusstsein, sie äußern sich auf zunächst unverständliche Weise und sind nach Jung die »Brenn- und Knotenpunkte« der Seele. Sie weisen stets auf notwendige Bearbeitungen hin, bringen den Menschen damit aber auch vorwärts. Damit wirken sie nicht nur negativ – es gibt auch förderliche Komplexe. Das zeigt sich beispielsweise in überraschenden schöpferischen Entwicklungen eines Menschen, die sprungartig ins Bewusstsein treten und doch schon länger im Unbewussten existiert haben müssen. Wenn allerdings ein Komplex besonders unbeeinflussbar ist, kann er sich, etwa in Form einer Zwangsidee, das ganze Leben eines Menschen unterwerfen.
Auch die »Psychologischen Typen«, die Jung 1921 in seinem ersten großen Werk nach dem Bruch mit Freud herausarbeitet, können als Komplexe gesehen werden. Seine Erkenntnisse bezieht Jung dabei nicht nur aus seiner therapeutischen Praxis, sondern auch aus eigenen geistesgeschichtlichen und literaturhistorischen Recherchen. Acht menschliche Grundtypen beschreibt er, wobei klar ist, dass diese acht idealtypische Vereinfachungen darstellen, während die individuelle Wirklichkeit vielfältiger erscheint.
Auf die Zahl acht kommt Jung durch die Erkenntnis, dass der Mensch entweder nach innen gekehrt (introvertiert) oder nach außen gekehrt (extravertiert) ist. Jede dieser beiden Gruppen unterteilt er noch einmal vierfach, gemäß den vier Grundfunktionen des bewussten Seelenlebens, die er unterscheidet: Denken, Fühlen (also die Emotionen), Empfinden und Intuieren. Die ersten beiden nennt Jung rationale Funktionen – auch das Fühlen, weil er es als Akt des Bewertens ansieht. Die letzten beiden nennt er irrationale Funktionen, weil sie nur mit der sinnlichen Wahrnehmung und ohne Wertung arbeiten. Dabei richtet sich die Empfindung nach außen und die Intuition auf dieselbe Weise nach innen, ins eigene Innere.
Auf Jungs Unterscheidung von Extra- und Introversion hat später der Persönlichkeitspsychologe Hans Jürgen Eysenck (s. Kap. 49) aufgebaut und sie durch den Gegensatz von emotionaler Stabilität und Labilität ergänzt. Anders als Jung konnte er die Persönlichkeitsmerkmale bereits mit modernen statistischen Methoden untersuchen, er untergliederte sie weiter und grenzte sie voneinander ab.
Mit der Unterscheidung der Persönlichkeitsmerkmale ist ein Grundzug der Jungschen Psychologie angesprochen: das Denken in Gegensätzen und vor allem im Prozess ihrer angestrebten Einung. Wie Freud sieht auch Jung es als Aufgabe eines jeden Menschen, zu reifen. Doch während Freud darunter die Integration verdrängter sexueller Wünsche durch ein zunehmend erstarkendes Ich versteht, erweitert Jung die Perspektive: Für ihn geht es im menschlichen Leben nicht primär um die Sexualität. Die Libido – darüber kam es zum Bruch mit Freud – versteht er nicht als sexuelle Trieb-, sondern als allgemeine Lebensenergie. Von ihr geleitet, soll der Mensch zu einem harmonischen Ganzen reifen, in dem sich die Persönlichkeit weiterentwickelt und Einseitigkeiten ausgeglichen werden.
In diesem Zusammenhang sind zwei wichtige Begriffe Jungs zu nennen: Animus und Anima. Diese so genannten Seelenbilder repräsentieren den gegengeschlechtlichen Anteil in jedem Menschen, mit dem es sich im Interesse einer voll entwickelten Persönlichkeit auseinanderzusetzen gilt: für die Frau den Animus, für den Mann die Anima. Denn psychisch gesehen ist der Mensch doppelgeschlechtlich. Wie die Lebensbilder beim Einzelnen konkret aussehen, das wird durch die Erfahrungen mit Vater und Mutter und durch weitere soziokulturelle Bedingungen beeinflusst. Auch der so genannte Schatten ist ein wichtiger Begriff im System der zu einenden Gegensätzlichkeit: Er steht für die noch nicht gelebte Seite eines Menschen, also beispielsweise gemäß der Typenlehre beim Extravertierten für die Introversion und umgekehrt. Der Schatten repräsentiert aber auch die unangenehmen Seiten der Persönlichkeit, also die, welche man sich selbst nicht gern eingesteht und lieber im Dunkeln lassen würde.
Animus, Anima und der Schatten führen zum Kern der Jungschen Psychologie: zur Archetypenlehre. Denn sie sind archetypische Leitbilder. Unter diesem Begriff versteht man allen Menschen gemeinsame Symbole oder Urbilder, die im Unbewussten wirken und von