Vater zu Hause hast und euer sympathischer Landarzt jederzeit ins Haus kommt, musst du dir auch keine Sorgen um deine Mutter machen.«
Wie einfach das alles klang. Alles kein Problem, dachte Angela mit aufsteigender Bitterkeit über Christians mangelndes Verständnis. Dies ließ sich alles durch ein paar Telefonate organisieren. Wenn da nur nicht ihr schlechtes Gewissen gewesen wäre.
Und wieder schien ihr Freund ihre Gedanken lesen zu können.
Er stand auf, zog einen der Terrassenstühle neben ihren und setzte sich. Dann nahm er ihre Hand fest in seine.
»Du brauchst dringend Urlaub und schöne Erlebnisse«, sagte er mit seiner warmen, ruhigen Stimme, die bis tief in ihr Herz drang und sie sofort wieder versöhnte. »Ich sehe doch, wie du an einem Tag wie heute oder gestern aufblühst. Dann hast du keinerlei Beschwerden, bist lustig, unbeschwert, glücklich. Und so sollte es immer sein. Na ja, immer geht sowieso nicht«, verbesserte er sich mit seinem jungenhaften Lächeln. »Aber so oft wie möglich. Außerdem möchte ich Zeit mit dir verbringen, möchte dir nah sein. Weißt du, auf Dauer ist so eine Fernbeziehung für mich nichts. Ich möchte dich bei mir haben. Und solange wir noch getrennt wohnen, will ich dich wenigstens am Wochenende ganz für mich haben. Was ja auch normal ist, wenn man sich liebt.«
Sie schluckte noch einmal verkrampft. Ihr Hals schnürte sich zusammen, eine kalte Hand schloss sich um ihr Herz, drückte es zusammen, und ihr Nacken versteifte sich. Als Nächstes spürte sie auch schon einen Druck im Kopf, wie stets, wenn sie Stress bekam. Christian machte ihr gerade einen solchen. Er stellte sie vor eine Hürde, von der sie noch nicht wusste, wie sie diese überwinden sollte. Noch war es zu früh. Sie hatte ihre Eltern gerade einmal daran gewöhnt, dass sie heute den ganzen Tag weg war. Und sie beide kannten sich doch erst so kurz.
Angela biss sich auf die Lippen, drückte Christians Hand und überwand sich schließlich, ihm fest in die Augen zu sehen.
»Ich weiß nicht, ob das jetzt schon geht«, sagte sie mit belegt klingender Stimme. »Ich meine, ob ich das alles in der Kürze der Zeit bis einschließlich Donnerstag organisieren kann.«
»Die Gemeindeschwester könnte ich anrufen und eure Situation schildern«, bot er sich an.
»Nein, das will ich nicht«, wehrte sie ab. Dabei hörte sie selbst die Panik in ihrem Ton. »Das mache ich schon«, fügte sie rasch hinzu. »Ich meine nur …« Sie verstummte.
Sie wusste nicht mehr, was sie meinen sollte.
Christian ließ ihre Hand los, stand auf und setzte sich wieder ihr gegenüber. Sie bemerkte, dass sich seine Miene verspannte.
»Bitte, du musst mich verstehen«, sagte sie hastig. »Ich meine ja nur, dass wir den Urlaub um ein paar Wochen verschieben sollten. Ich muss mich erst einmal an diesen Gedanken gewöhnen. Spontaneität scheint weniger zu meinen Charakterstärken zu gehören als zu deinen«, scherzte sie halbherzig.
»Dann helfe ich dir gern diesbezüglich ein bisschen auf die Sprünge«, beharrte Christian da mit dem für ihn so typischen Funkeln in den Augen. »Versuch es doch einfach mal. Sei spontan. So wie heute Morgen, als du mich in aller Frühe angerufen hast. Oder vor ein paar Tagen, als wir uns danach in der Brauerei getroffen haben. Du kannst es.«
Da ging es auch nur um ein paar Stunden statt um ein verlängertes Wochenende, hätte sie fast erwidert, doch sie hielt sich zurück.
Wie gern wollte sie mit dem geliebten Mann das Tessin erobern. Wie gern mit ihm drei Nächte Seite an Seite liegen, eng umschlungen, wie gern mit ihm durch idyllische südliche Gassen schlendern, den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Ohne Probleme, ohne inneren und äußeren Druck, frei wie ein Vogel.
»Versuch, dass wir am Freitagmorgen fahren können«, bat Christian sie mit einem Blick, in dem all seine Liebe für sie geschrieben stand. »Ich will ehrlich sein: Ich habe ein wenig Angst, dass das nächste Wochenende wieder so ablaufen wird wie das jetzige, was zwar dann doch noch schön geworden ist. Trotzdem hat uns deine Familie um eine Nacht betrogen. Wenn wir weg sind, weit weg, kann niemand dich ganz plötzlich zurückrufen.«
»Du hast ja völlig recht«, musste sie ihm eingestehen. »Ich sehe das ganz genauso. Und ich würde so unheimlich gern einmal ins Tessin fahren.«
»Also …« Christian stand wieder auf, trat neben sie und zog sie an den Händen hoch.
Er drückte sie an sich. Sie atmete seinen Duft nach Minze und Sandelholz ein, spürte seine warme glatte Haut an ihrer Wange, fühlte zwischen ihren Fingern sein Haar, seinen Körper an ihrem. Da wusste sie: Auf dieses Gefühl der Nähe und Geborgenheit wollte sie nie mehr verzichten. Und auch nicht auf das Kribbeln in ihrem Bauch, das Christian bei jeder Berührung in ihr auslöste. Ja, sie war eine Frau, eine junge Frau, und ihr stand all dies zu. Ursprünglich hatte sie zwar vorgehabt, ihre Familie etwas schonungsvoller darauf vorzubereiten, dass sie in Begriff war, sich von ihr abzunabeln, aber gut, dann sollte es jetzt so sein.
Sie strich Christian eine Locke aus der Stirn, lächelte ihn an und versprach ihm mit fester Stimme: »Abgemacht. Kommendes Wochenende fahren wir ins Tessin. Von Freitagmorgen bis Sonntagabend.«
Da hob er sie hoch und wirbelte sie einmal durch die Luft. Nachdem sie wieder die Holzdielen unter den Füßen hatte, küsste er sie. Voller Innigkeit, Verlangen und auch Dankbarkeit. Mit den gleichen Gefühlen in ihrem pochenden Herzen küsste sie ihn zurück. Und dieser Kuss bedeutete für sie das Versprechen an den geliebten Mann, ihrem Leben nun endgültig eine Wende zu geben.
*
Freitagmorgen wachte Angela bereits vor dem Klingeln des Weckers auf. Mit einem Lächeln auf den Lippen sprang sie aus den Federn.
Es war ein wunderschöner Morgen. Den Himmel überzog ein zartes Rosé, welches die bewaldeten Höhenzüge verzauberte. Auf den Pflanzen lag noch der Tau der Nacht. Die frische Luft duftete herrlich nach Gras und wilden Blumen, und in den Bäumen zwitscherten ihr die Vögel ein Lied.
Zumindest der Wettergott war ihnen gut gesonnen, dachte Angela vergnügt. Ihre Eltern hatten zwar kein Wort der Kritik über ihren Kurzurlaub verlauten lassen, aber sie wusste nur zu gut, dass ihnen dieser mehr als unrecht war. Jenny hatte gemault, wie immer, wenn sie ihr Aufgaben auftrug. Für das bevorstehende Wochenende war es eine ganze Liste gewesen.
»Hallo? Vielleicht habe ich an diesem Wochenende auch was vor?«, hatte ihre Schwester voller Empörung gesagt und die Liste zerknüllt auf den Boden geworfen.
»Jenny.« Nur dieses eine schneidend ausgesprochene Wort von ihr hatte gereicht, und die Jüngste hatte das Blatt Papier wieder aufgehoben und geglättet.
»Ist ja schon gut, aber das ist das erste und letzte Mal, dass ich dir deine Aufgaben abnehme«, hatte Jenny wutschnaubend gesagt. »Und wenn ich in der Englischarbeit in der kommenden Woche eine Fünf schreibe, bist du schuld.«
»Es ist das erste, aber bestimmt nicht das letzte Mal«, hatte sie ganz gelassen ihrer Schwester geantwortet. »Werd endlich erwachsen, dann klappt es auch mit den Jungs. Wer will denn schon so eine Zicke haben wie dich?«
Danach hatten sie sich gegenseitig noch ein paar Freundlichkeiten an den Kopf geworfen, aber sie war sich sicher gewesen, dass Jenny verstanden hatte, was sie von ihr in den kommenden Tagen erwartete.
In Erinnerung an diesen Streit musste Angela jetzt belustigt lächeln. Manchmal ging es ganz schön hoch her zwischen ihnen. Wie das bei Geschwistern halt so war.
Mit diesem Lächeln begegnete sie auch ein paar Minuten später der schlechten Laune ihres Vaters und der leidvollen Miene ihrer Mutter. Das Frühstück verlief schweigsam und bedrückend, und Angela blieb auch nicht lange am Tisch sitzen.
»Ich fahre jetzt«, sagte sie entschlossen.
»Ach, Kind …« Ihre Mutter sah von unten an wie ein geschlagener Hund.
»Mama …« Wie eine Warnung kam der jungen Frau das eine Wort über die Lippen.
»Fahr ruhig, wir kommen zurecht«, sagte ihr Vater in sachlichem Ton, aber nicht gerade herzlich.
»Und