von Tiepolo – eine Nachblüte insbesondere in der venezianischen Malerei, und hier wieder in der Vedutenkunst eines Canaletto, Bernardo Bellotto, Pietro Longhi oder Francesco Guardi.
So divergent sich die einzelnen Malerei-Schulen und – Strömungen im Rokoko zeigen, so ist ihnen doch eines gemeinsam: die Bevorzugung der koloristischen Einheit gegenüber der Figurenbildung und damit eine bemerkenswerte Präferenz des Malerischen gegenüber dem linearen Moment. Dies gilt für Franzosen wie François Boucher oder Jean-Honoré Fragonard ebenso wie für einen Franz Anton Maulbertsch im deutschsprachigen Raum oder einen Pietro Longhi in Venedig, einen Thomas Gainsborough in England.
ANONYME BUCHKÜNSTLER
tätig um 800 am »Book of Kells«
Das Book of Kells ist einer der größten Kunstschätze der Welt. Das Buch ist im Trinity College in Dublin, im »Long Room« der altehrwürdigen Bibliothek, unter Panzerglas ausgestellt.
Umberto Eco zieht eine Parallele zwischen dem »wuchernden« Dekor des Buches, der »ein neues Universum zu definieren« suche, und dem antiklassischen Stil damaliger insularer, vornehmlich irischer Literaturästhetik, der in Komplexität, im Überfluss an Epitheta und Paraphrasen, im Monströsen, Maßlosen und Wunderbaren schwelgt.1 Auch in der Moderne erwies sich das Book of Kells als Gedankenmodell zu experimenteller Sprachartistik. Denn es inspirierte James Joyce zu Finnegans Wake (1922–1939), einem Stück Literatur, das Bild und Sinnbild der Welt sein wollte. Bereits im Zusammenhang mit seinem großen Roman Ulysses (1922) behauptete Joyce, dass viele Initialen des Book of Kells die substantielle Eigenart seiner Kapitel besäßen, und er rief die Leser zum wiederholten Vergleich mit jenen Miniaturen auf.
Die prähistorisch-keltische Flechtwerk-Ornamentik als Träger magischer Kräfte vereint sich in der überbordenden Ornamentik dieses Buches, in seinen Zierfeldern, Teppichseiten (die, einem Teppich gleich, vollständig von Dekoration bedeckt sind), seinen Initialen bruchlos mit dem christlichen Verständnis vom sakramentalen Sinn des Wortes. Die linearen Gebilde, deren tiefgründige Aussagekraft bereits die nubischen und koptischen Frühchristen Ägyptens und des Sudan mit christlichen Zeichen in Zusammenhang gebracht hatten, entsprangen den mythischen Vorstellungen von geheimnisvollen Netzen und Schlingen der Welt und des Teufels und ihrer apotropäischen Bannung.
Die Technologie der verwendeten Farben stellt ein kompliziertes Kapitel dar, das in einzelnen Fällen bis heute nicht geklärt ist. Insbesondere bleibt umstritten, ob ein bestimmtes leuchtendes Blau mit Hilfe von Lapislazuli entstand, einem im Mittelalter mit Gold aufgewogenen Halbedelstein (die kostbarste Variante stammte aus dem Himalajavorgebirge in Afghanistan). Jedenfalls waren die meisten Farbpigmente, die die Illuminatoren für das Wunderwerk des Book of Kells wählten, immens teuer.
Wer waren sie nun, diese Illuminatoren?
Das Book of Kells ist die Schöpfung eines in irischer Tradition verwurzelten Klosterskriptoriums. So viel steht fest. Doch ist es in Kells (etwa 60 km nordwestlich von Dublin) zu lokalisieren, in Iona (vor der Westküste von Schottland), im nordenglischen Northumbrien, gar auf dem Schottischen Festland? Die aktuelle Meinung tendiert zu Iona oder spricht sich wenigstens für die Möglichkeit aus, die Handschrift sei in Iona begonnen und in Kells gegen 800 abgeschlossen.
Umstritten ist die Anzahl der Schreiberhände – die Leistung der Schreiber, der Skriptoren, die sich in einer unglaublich komplexen und überwältigenden Kalligraphie manifestiert, darf ja aus dem künstlerischen Kosmos einer solchen Handschrift unter keinen Umständen ausgeklammert werden. Am besten wird man von drei oder vier Skriptoren ausgehen. Als Illuminatoren werden in der Hauptsache drei Künstler namhaft gemacht: der »Goldschmied«, da er mit Vorliebe Gelb verwendete, um Gold auf zahlreichen Zierseiten zu suggerieren; ferner der »Porträtmaler«, der für einen Großteil der kühnen figürlichen Miniaturen verantwortlich sei; schließlich der »Illustrator«, Urheber weiterer figurativer Kompositionen. Egal, ob man dieser Händescheidung folgen will oder nicht (statt ihrer gibt es auch die These lediglich zweier Illuminatoren), unbestritten bleibt die für den heutigen Betrachter fast unvorstellbare Homogenität und Harmonie der Ausstattung.
Das Können der Künstler, die vermutlich Mönche waren, erschöpft sich nicht in der Faszination, die sich an das Auge richtet. Man sollte immer beachten, dass jene »voluptas oculorum«, jene Begierde des Schauens, wie mittelalterliche Theologen dazu sagten, nie zum Selbstzweck geriet, dass sie sich im Book of Kells so gut wie immer in den Dienst einer Bildertheologie stellte und somit an den religiösen Intellekt, an eine spirituelle Auffassung richtete. Freilich: Der durchgehend zu konstatierende Drang zur Kalligraphie, in deren Schönheit es sich meditativ zu versenken gilt – einer Kommunion des Auges gleich –, verlässt gerne die Grenzen nüchterner Praktikabilität, er befördert die Buchstaben zu Bildern, wie umgekehrt Bilder zu einem intelligiblen Zeichensystem werden. Man nehme nur die Gestalt des Johannes auf Folio 291V: Frontal thront der Evangelist, in der Rechten die gigantische Schreibfeder. Mit weit gespreizten Beinen und auswärts gedrehten Füßen, gleichsam sprungbereit sitzt der von seiner Botschaft Durchdrungene vor uns, sein Haupt umgibt das riesige Rad eines ornamentalen Heiligenscheins. Die aus dekorativen Linienverschlingungen aufgebaute Gestalt ist zugleich Bild gewordenes Signal, Chiffre transzendenter Energien.
Keine andere Handschrift der Zeit kann sich, was die phantastische Flut an Illustrationen und deren Erfindungsreichtum betrifft, mit dem Book of Kells messen. Wie ein unauflösliches Gespinst ziehen sich Schmuckformen durch den Text. Die Initialen am Anfang jedes Abschnittes leuchten aus einem farbigen Geflecht von Vögeln, Schlangen, Menschen und Tieren oder sind in einen funkelnden Ornamentteppich eingebettet. Auch dem Text sind unzählige Tiere und Fabelwesen integriert.
Wir kennen nicht die Biographien der beteiligten Künstler. Möglich, dass sie aus Iona flüchteten, als das Kloster von den Wikingern 802 niedergebrannt wurde, möglich, dass sie zu den Opfern gehörten, als die Wikinger 806 die Insel erneut überfielen und 68 Mitglieder des Konvents niedermetzelten. Dass es ganz große Künstler waren – das allerdings wissen wir, sehen wir es doch an ihrem Werk!
1 Er tut dies im Vorwort zu einem Standardwerk: Book of Kells, Ms. 58, Trinity College Library Dublin. Kommentarband zur Faksimile-Ausgabe. Hrsg. Anton von Euw. Luzern 1990
GREGORMEISTER BZW. MEISTER DES REGISTRUM GREGORII
(tätig Ende des 10. Jahrhunderts)
Dem Mittelalter galt vielfach der Auftraggeber, der geistige Mentor des Werks und der Ideengeber, als der wahre »artifex«, als der eigentliche »Schöpfer«, gemessen am ausführenden Künstler. Dem sei hiermit Rechnung getragen: Der Buchmaler, dem die Kunstgeschichte den Notnamen »Gregormeister« gegeben hat, sei in die Entourage seines Mäzens Egbert eingereiht.
Egbert war einer jener hohen geistlichen Würdenträger, aus denen sich der ottonische Reichsklerus rekrutierte. Die altehrwürdige Bischofsstadt Trier gewann am Ende des 10. Jahrhunderts neuerlichen künstlerischen Glanz. Damals bestieg der zuletzt für Kaiser Otto II. als Kanzler tätige Egbert den Erzbischofsstuhl. Während er den Verlust der noch um 950 bestehenden geistlichen Vorherrschaft Triers zu verantworten hatte, übertrumpfte er fast alle seine Zeitgenossen als Kunstmäzen. Insbesondere die unter seiner Ägide arbeitenden Goldschmiede überhäufte er mit Aufträgen. Quellen berichten von prunkvollen Edelmetallkreuzen für den Trierer Dom. Erhalten blieben der edle goldumhüllte Tragaltar des heiligen Andreas, zwischen 977 und 993 hergestellt (im Trierer Dom), und die im Jahre 980 vollendete Hülle für den Stab des heiligen Petrus, eine Alter und Würde des Trierer Erzbischofsitzes verbürgende Reliquie (seit 1827 im Dom zu Limburg).
Egbert starb am 9. Dezember 993. Er fand seine letzte Ruhestätte in der von ihm an der Nordseite des Trierer Doms erbauten Andreaskapelle.
Der Egbert-Codex (Codex Egberti) des ausgehenden 10. Jahrhunderts, ein Perikopenbuch, also ein liturgisches Buch mit Auszügen aus den Evangelien (Trier, Stadtbibliothek, Ms. 24), ist eine der künstlerisch wertvollsten Bilderhandschriften