Edgar Wallace

Edgar Wallace: 69 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Band


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könnte ich dieser Aufforderung nicht nachkommen?« Sie hielt ihm den Brief hin.

      Er nahm ihn lächelnd aus ihrer Hand, ging zu dem Kaminfeuer und warf ihn in die glühenden Kohlen.

      »Ich fürchte, Sie befolgen die allereinfachsten Vorsichtsmaßregeln und Instruktionen nicht«, meinte er scherzend.

      Irgend etwas an seinem Verhalten stieß sie ab. Er dachte also mehr an seine eigene Sicherheit und an seine Verpflichtung Farrington gegenüber als an sie. Es war ein merkwürdig inkonsequenter Gedanke in ihrer augenblicklichen Lage, aber er war ihr nun einmal gekommen, und er hatte Einfluß auf ihre späteren Handlungen.

      »Nun hören Sie mir einmal zu«, sagte er mit seinem freundlichen Lächeln. »Sie dürfen sich deswegen keine Sorgen machen. Gehen Sie ruhig Ihren eigenen Weg, und gestatten Sie mir, die Sache mit Farrington in Ordnung zu bringen. Er ist ein starrköpfiger und ehrgeiziger Mann; vielleicht will er Sie aus einem bestimmten Grund mit Doughton verheiraten. Über diesen Punkt werde ich mich noch genauer informieren. In der Zwischenzeit denken Sie nicht mehr daran, überlassen Sie nur alles mir.«

      »Ich fürchte, das kann ich nicht. Wenn ich nicht einen zweiten Brief von meinem Vormund erhalte, der den ersten widerruft, muß ich seinem Wunsch nachkommen. Es ist schrecklich, einfach schrecklich, daß ich in eine so entsetzliche Lage gebracht werde!« Sie rang verzweifelt die Hände. »Wie kann ich ihm denn dadurch helfen, daß ich Frank Doughton heirate? Wie kann ich ihn dadurch retten? Können Sie mir das erklären?«

      Er schüttelte den Kopf.

      »Haben Sie sich schon mit Mr. Doughton in Verbindung gesetzt?«

      »Ja, ich habe ihm geschrieben«, erwiderte sie zögernd. »Wollen Sie die Kopie meines Briefes lesen?«

      Ein Ausdruck des Unmutes zeigte sich in seinem Gesicht, aber er unterdrückte diese Aufwallung.

      »Ich würde sie gern lesen«, sagte er höflich.

      Sie reichte ihm ein Blatt Papier.

      »Mein lieber Frank«, lautete das Schreiben, »aus einem Grund, den ich Ihnen nicht erklären kann, ist es notwendig, daß die Hochzeit, die mein Onkel so sehr wünscht, im Lauf der nächsten Woche stattfindet. Sie kennen meine Gefühle Ihnen gegenüber, Sie wissen, daß ich Sie nicht liebe und daß ich diese Ehe nicht schließen würde, wenn es nach meinen Wünschen ginge. Aber ich bin nun gezwungen, im Gegensatz zu meinen eigenen Überzeugungen zu handeln. Es fällt mir sehr schwer, Ihnen dies alles zu sagen, aber ich kenne Ihren vornehmen, großzügigen Charakter, Ihre Freundlichkeit und Güte, und ich weiß, daß Sie den Aufruhr der Gefühle verstehen werden, der mich jetzt bestürmt.«

      Poltavo legte den Brief auf den Tisch zurück. Er ging im Zimmer auf und ab, ohne ein Wort zu sagen. Dann wandte er sich ihr plötzlich zu.

      »Madonna«, sagte er mit weichem, südländischem Akzent (er hatte seine Jugend in Italien verlebt), »wenn ich an Frank Doughtons Stelle wäre, würden Sie dann auch zögern?«

      Sie sah ihn bestürzt an, und er erkannte sofort, daß er einen Fehler gemacht hatte. Er hatte ihr Vertrauen und ihre Sympathie mit einem tieferen Gefühl verwechselt, das sie ihm nicht entgegenbrachte. In diesem einen Blick las er mehr, als sie selbst wußte, nämlich, daß sie im Innersten ihres Herzens Frank erwählt hatte. Er hob die Hand, um ihr die Antwort zu ersparen.

      »Sie brauchen es mir nicht zu sagen«, meinte er lächelnd. »Vielleicht werden Sie später einmal klar erkennen, daß in der Liebe des Grafen Poltavo die größte Verehrung lag, die Ihnen jemals gezollt wurde, denn Sie sind die große Liebe meines Lebens, die frei ist von Niedrigkeit und anderen Motiven.«

      Seine Stimme zitterte, und vielleicht glaubte er im Augenblick selbst an seine Worte. Er hatte ähnlich schon zu anderen Frauen gesprochen, die er längst vergessen hatte.

      »Wir müssen nun auf Mr. Doughtons Antwort warten«, sagte er dann kurz.

      »Ich habe seine Antwort schon erhalten – er hat mich angerufen.«

      Poltavo lächelte.

      »Ein typischer Engländer – beinahe ein Amerikaner in seiner Eile. Wann wird denn nun das glückliche Ereignis stattfinden?« fragte er scherzend.

      »Bitte, sprechen Sie nicht so« – sie hob ihre Hände und bedeckte ihr Gesicht –, »ich weiß selbst jetzt noch nicht, ob ich die Kraft haben werde, die Wünsche meines Onkels zu erfüllen.«

      »Wann?« fragte er noch einmal.

      »In drei Tagen – Frank wird eine besondere Genehmigung erhalten. Wir werden –« Sie zögerte. »Wir werden nach Paris gehen«, sagte sie dann und errötete dabei. »Aber Frank wünscht, daß wir –«, sie hielt wieder inne, sprach dann aber beinahe trotzig weiter, »daß wir getrennt leben sollen, obwohl es uns nicht möglich sein wird, diese Tatsache geheimzuhalten.«

      »Ich verstehe. In diesem Punkt zeigt Mr. Doughton ein Feingefühl, das ich in hohem Maße anerkennen muß.«

      Wieder packte sie ein gewisser Widerwille gegen seine Art. Die väterliche Anmaßung in seinem Ton und seine Einbildung waren durch nichts gerechtfertigt. Daß er Franks Verhalten in dieser selbstherrlichen Weise billigte, empfand sie beinahe als eine Unverschämtheit.

      »Haben Sie schon darüber nachgedacht«, fragte er nach einer Weile, »was wohl geschehen würde, wenn Sie Frank Doughton nicht heiraten und den Wunsch Ihres Onkels nicht erfüllen würden? Wissen Sie, welches Unglück ihn dann treffen würde?«

      »Ich weiß es nicht«, sagte sie offen. »Ich ahne jetzt dunkel seinen wirklichen Charakter. Ich dachte immer, er sei ein freundlicher und wohlwollender Mann gewesen. Nun weiß ich aber, daß er –« Sie hielt inne, und Poltavo vollendete den Satz, den sie soeben begonnen hatte.

      »Sie wissen jetzt, daß er ein Verbrecher ist, ein Mann, der seit Jahren die Furcht und die Leichtgläubigkeit seiner Mitmenschen in der brutalsten Weise ausnützt. Das muß für Sie eine furchtbare Entdeckung gewesen sein, Miss Gray. Aber schließlich werden Sie ihm verzeihen, daß er Ihnen Ihr Vermögen gestohlen hat.«

      »Ach, es ist alles so schrecklich – mit jedem Tag wird es mir klarer. Meine Tante, Lady Dinsmore, hatte recht.«

      »Lady Dinsmore hat immer recht«, sagte er leichthin. »Das ist ein Vorrecht ihres Alters und ihrer Stellung. Aber inwiefern hatte sie denn recht?«

      »Ich glaube nicht, daß es schön von mir ist, Ihnen das zu sagen, aber ich muß es tun. Sie glaubte, daß Mr. Farrington in dunkle Geschäfte verwickelt war. Sie hat mich von Zeit zu Zeit gewarnt.«

      »Wirklich eine bewunderungswürdige Frau.« Es lag eine leise Ironie in seinem Ton. »In drei Tagen«, fuhr er dann nachdenklich fort. »Nun, in drei Tagen kann sich noch viel ereignen. Ich muß gestehen, daß ich gerne wissen möchte, was geschieht, wenn diese Heirat nicht stattfindet.«

      Er wartete nicht auf ihre Antwort, sondern verließ mit einer kurzen Verbeugung das Zimmer.

      »Drei Tage«, wiederholte er, als er nach Hause zurückging. Warum hatte Farrington so große Eile, das Mädchen zu verheiraten, und warum hatte er ausgerechnet diesen armen Journalisten als Gatten für sie ausgewählt?

      Dieses Rätsel zu lösen, würde viel Arbeit und Mühe kosten.

      *

      Zwei der drei Tage waren Frank Doughton wie im Traum vergangen. Er konnte nicht an die Möglichkeit glauben, daß dieses Glück wirklich auf ihn wartete. In seine Freude mischte sich jedoch die bittere Erkenntnis, daß er eine Frau heiratete, die nicht den Wunsch hatte, mit ihm vereinigt zu sein.

      Aber in seinem Optimismus und in dem Überschwang seines starken Gefühls sagte er sich, daß sie es noch lernen werde, ihn zu lieben. Er hatte ein unbegrenztes Zutrauen zu sich selbst und arbeitete hart in diesen Tagen, nicht nur an seinen Zeitungsartikeln, sondern auch an der Verwertung der Tatsachen, die er durch den Brief an den verstorbenen Tollington erfahren hatte. Alle Kirchenbücher hatte er durchgesehen; um die Frauen mit dem Namen Annie