»Ich sage rasch meiner Frau Bescheid. Sie wird bestimmt einen passenden Anzug für Sie finden.«
Der Raum war nicht geheizt, aber Helder fühlte sich hier behaglich im Gegensatz zu seinem Aufenthalt im Eisenbahnwaggon und auf freiem Feld. Der Mann kam nach einiger Zeit mit einem Bündel Kleider unter dem Arm zurück, die er auf dem kleinen Sofa ausbreitete.
»Bitte suchen Sie sich aus, was Sie brauchen. Meine Frau macht gerade eine Tasse Tee für Sie.«
Er ging wieder hinaus, und Helder zog rasch einen noch recht gut erhaltenen Anzug an, den ihm der Mann gebracht hatte.
Helder sah in seiner neuen Kleidung vollkommen verändert aus. Der Anzug paßte besser, als er gedacht hatte. Er band sich noch einen wollenen Schal um den Hals, und man konnte ihn nicht mehr von einem gewöhnlichen Arbeiter unterscheiden. Seine Brieftasche und die anderen kleinen Gegenstände, die in seinem eigenen Anzug steckten, nahm er heraus und suchte noch einmal alle Taschen durch, um nicht später der Polizei einen Hinweis zu geben. Inzwischen brachte die Frau den Tee und machte Feuer an.
»Ich möchte nicht, daß über die Sache gesprochen wird«, sagte Helder zu dem Mann. »Man glaubt allgemein, ich sei in London, und es wäre mir unangenehm, wenn bekannt würde, daß ich mich hier in der Gegend herumtreibe.«
Der Mann nickte und zwinkerte verschmitzt mit den Augen.
»Sie können sich auf mich verlassen«, erwiederte er. »Was soll mit Ihren Kleidern geschehen?«
»Die können Sie behalten.«
Helder trank Tee und aß zwei dicke Scheiben Toast.
Es war inzwischen hell geworden, und er ging rasch zum Bahnhof und löste eine Arbeiterfahrkarte nach Romford. Dort stieg er in einen Vorortzug Richtung London.
Um acht Uhr kam er auf dem Liverpool-Street-Bahnhof an. Die Straßen waren von Arbeitern bevölkert, die zu den Fabriken strömten.
Es war ihm klar, daß er die City möglichst vermeiden mußte; er ging also in östlicher Richtung weiter und kaufte in einem Laden für Gebrauchtwaren einen dicken Mantel und einen Hut, wie er sie früher nie getragen hatte. Auf Umwegen erreichte er New Cross, die Station, auf der die Personenzüge in Richtung Dover halten.
Wieder hatte er Glück. Es war alles einfacher, als er gedacht hatte. Er war auf einmal todmüde von den Anstrengungen der vergangenen Nacht.
Bis Ashford schlief er ein wenig und stieg dann aus dem Zug, der hier einige Minuten Aufenthalt hatte. Er aß am Eisenbahnbüfett eine Kleinigkeit und kaufte sich rasch eine Zeitung.
Es war die neueste Morgenausgabe, die mit großen Schlagzeilen von dem Ende der Fälscherbande berichtete.
Helder biß die Zähne zusammen, als er seinen Namen las. Und dann erschrak er – das Motorboot war von einem Küstenwachschiff aufgefischt worden, und die Polizei kombinierte richtig, daß die drei Verbrecher wieder aufs Festland zurückgekehrt waren.
Alle Zugs wurden überwacht, sämtliche Kanalhäfen kontrolliert – jetzt war seine Lage katastrophal.
Während er versuchte, zu einem Entschluß zu kommen, hielt ein Zug nach London vor seiner Nase. Er faßte es als einen Fingerzeig des Schicksals auf und stieg ein, obwohl er wußte, daß der Zug erst am Waterloo-Bahnhof halten würde.
Seine ganze Hoffnung bestand darin, daß die Polizei ihre Aufmerksamkeit wahrscheinlich eher auf die Züge konzentrierte, die nach den Küstenstationen fuhren.
Das Glück blieb ihm treu. Der Bahnhof wurde zwar von einem halben Dutzend Kriminalbeamten bewacht, aber keiner entdeckte ihn.
Mit der Untergrundbahn fuhr er quer durch London und erreichte High Gate. Hier kaufte er verschiedenes ein, vor allem einen Koffer und einen zweiten Anzug. Mit diesen Sachen fuhr er wieder nach Südlondon zurück und stieg dort in einen Vorortzug Richtung Sydenham. In einem leeren Eisenbahnabteil wechselte er seine Kleider und veränderte mit einer dicken Hornbrille sein Aussehen so sehr, daß man ihn kaum wiedererkennen konnte.
Wentworth Gold und ganz Scotland Yard waren ihm auf den Fersen. Er wußte, daß seine Chancen hundert zu eins standen.
Am Nachmittag um fünf Uhr wurden Tiger Brown und Clinker in Brentford verhaftet. Bei ihrem Verhör kam wenig heraus, was die Polizei nicht schon wußte. Natürlich hatten sie keine Ahnung, wohin Helder flüchten wollte.
»Ich möchte wetten, daß er in London war«, erklärte Gold. »Wir müssen jetzt nur aufpassen, daß er sich nicht wieder bis zur Küste durchschlägt.«
Helder ging sehr geschickt vor. Er benützte nie einen Schnellzug, sondern entfernte sich durch kleine Fahrten mit Vorortzügen immer weiter von der Hauptstadt. Mit einem Bummelzug erreichte er Reading, führ dann nach Fishguard und kam gerade Zur rechten Zeit in diesem Hafenort an, um noch den Dampfer nach Irland zu erreichen.
Wieder erkannte ihn niemand, als er an Bord ging. Zwei Kriminalbeamte, die die einsteigenden Passagiere beobachteten, wendeten gerade im richtigen Moment ihren Verdacht einem völlig unbescholtenen Reisenden zu.
Dann aber ließ Helder das Schicksal, das ihm bisher immer noch weitergeholfen hatte, endgültig im Stich. Die Art und Weise, wie er verhaftet wurde, waren ein Witz, den jeder spaßig fand – außer Helder selbst.
Gold wurde in den frühen Morgenstunden durch ein Telegramm geweckt, das ihm von Scotland Yard gesandt worden war. Es lautete kurz: »Helder in Queenstown verhaftet.«
Gold nahm den nächsten Zug und traf am Vormittag in der Hafenstadt ein. Auf der Polizeiwache wurde er bereits erwartet, und man führte ihn sofort in eine Zelle, in der Helder mit resigniertem Gesichtsausdruck auf einer Pritsche hockte.
»Na, Gold, jetzt haben Sie mich also doch erwischt!«
Gold nickte.
»Ich habe es Ihnen vorausgesagt.«
Helder lachte bitter.
»Hat man Ihnen schon erzählt, wie man mich verhaftete?«
»Nein«, entgegnete Gold erstaunt. Er wunderte sich, daß der Gefangene ausgerechnet darauf zu sprechen kam. Helder lehnte sich zurück, steckte die Hände in die Taschen und sah an Gold vorbei auf die Gitterstäbe des Fensters.
»In einem Reisebüro kaufte ich mir eine Schiffskarte nach Amerika«, sagte er. »Unter den Banknoten, mit denen ich bezahlte, war auch eine Fünfpfundnote. Mein Geld war echt, und ich dachte schon, ich hätte es geschafft, als man mir die Schiffskarte aushändigte – doch an der Tür verhaftete mich ein Kriminalbeamter.«
»Nun ja, man hat Sie sicher erkannt«, meinte Gold.
»Nein, das war es nicht«, entgegnete Helder mit erstickter Stimme. »Aber die Fünfpfundnote, mit der ich bezahlte, war gefälscht.«
»Aber Sie haben doch niemals Fünfpfundnoten gefälscht!«
»Nein, das ist es ja gerade. Gefälscht hat sie irgendein anderer – ein Stümper! Und ich habe sie zufällig in die Hand bekommen!«
23
Mrs. Verity Bell saß auf der breiten, sonnenüberfluteten Terrasse des Hotels ›Cecil‹ beim Frühstück. Vor ihr lag Gibraltar, ein großer grauer Felsblock, links zog sich die sanft gewellte Hügelkette des spanischen Festlandes hin, und hinter ihr schlossen die weißen Häuser von Tanger das Panorama ab.
Verity war glücklich. In den letzten drei Monaten hatte sie ein Leben geführt, wie sie es früher nur aus Romanen gekannt hatte. Sie war in der Schweiz gewesen, in Italien, Spanien und Ägypten – und was in der Zukunft vor ihr lag, würde genauso sorgenlos und schön sein.
Schritte näherten sich, und als sie sich umwandte, stand Comstock vor ihr.