hinein.
Er instruierte, rüstete aus, bestrafte Feiglinge, belobte Mutige, ein kleiner Gott war er. Sich selbst übertraf er, längst war sein Glaube erschüttert, sein Haß geschwächt, seine Begeisterung ausgekühlt, er glaubte nur an sich, liebte sich selbst, begeisterte sich an seinen Taten. Er haßte nicht mehr die Efrussis und nicht mehr die Glasers. Er glaubte nicht an den Erfolg der Bewegung. Er begann, Trebitsch zu durchschauen. Er sah die Sinnlosigkeit dieses Schlagwortes, jenes Arguments. Er verachtete die Zuhörer, zu denen er sprach. Er wußte, daß sie alles glaubten. Er las Broschüren, Zeitungen, nicht um ihre Gesinnung zu teilen, sondern um sie auswendig zu lernen, Überzeugungen, die ihm gleichgültig waren, im Kopf zu behalten. Er sah, daß jeder nur für sich arbeitete, er tat es mit größerer Anstrengung als die anderen. Er wollte … was er wollte, war ihm nicht klar.
Er wollte Führer sein, Abgeordneter, Minister, Diktator. Noch kannte man ihn nicht außerhalb seiner Kreise. Noch brannte der Name Theodor Lohse nicht in den Zeitungen. Er hätte gern ein Märtyrer seines Ruhmes werden, der Volkstümlichkeit des Namens sein Leben opfern mögen. Es schmerzte ihn der Zwang zur Namenlosigkeit, unter dem er alle Taten verrichten mußte. Und je geringer die Kraft seiner Überzeugung wurde, desto mehr erweiterte er die Gebiete seines vorgetäuschten Hasses: nun sprach er nicht nur gegen Arbeiter und Juden und Franzosen, sondern auch gegen den Katholizismus, die Römlinge. Er überfiel den Saal, in dem der katholische Schriftsteller Lambrecht sprach. Er saß in der ersten Reihe. An ihm vorbei rauschten Sätze einer fremden, unverständlichen Sprache. Aber ein Wort fiel nieder, das Wort »Talmud«. Es rüttelte an Theodors halb eingeschläfertem Bewußtsein. Er pfiff, und vierzig Ochsenziemer seiner Schar prasselten auf die Zuhörer. Dem Schriftsteller Lambrecht schrie Theodor »Jud!« und »Römling!« entgegen. Er formte eine große Speichelkugel auf der Zunge. Er spie sie gegen Lambrecht. Er zerrte eine grauhaarige Frau am Kopfe durch die Sitzreihe. Er drehte ihre Handgelenke. Die Frau schlug ihn mit den Beinen, gellte in seine Ohren. Plötzlich wurde sie schwer, fiel nieder. Es schrillte seine Pfeife. Alle verschwanden. Die Polizei fand nur noch einen Tatbestand vor und verhaftete zwei Verletzte, in deren Taschen sie rote Knöpfe gefunden hatte und die harmlose Mitglieder eines Kegelklubs waren.
Er liebte Franziska, die zu ihm kam, eine Spionin. Berichte brachte sie von der Kommunistischen Partei, kurzgelockt war ihr Haar, braungelb ihre Haut. Er weinte, als sie verschwand mit seiner Kasse, seinen Berichten, ihm fehlte Geld. Der Postbeamte Janitschke verlangte Honorar für gestohlene Briefe. Er hatte einen lahmen Arm, aber er drohte mit Anzeigen. Der Spitzel Bräune wollte Reisegeld nach Frankfurt an der Oder, seine Frau hatte ein Kind bekommen, und er mußte heim.
Theodor meldete den Fall Franziska, das Geld sollte er selbst zurückerstatten, er flehte bei Trebitsch um Hilfe, Trebitsch riet ihm: Efrussi.
Er wartete lange im Vorzimmer. So lange hatte er gewartet, als er das erstemal zu Efrussi kam, um die Lehrerstelle. Es schrillte die Glocke, zweimal, dreimal, der schwarze Diener bewegte sich stelzend, mit vorgestreckter Brust, eingezogenen Knien, wie ein Mensch aus Holz. Immer noch trug Efrussi das blasse, kalte, schmerzliche Antlitz einer alten, strengen Frau, ein Hauslehrer wurde man in seinem Zimmer, ein Theodor Lohse von damals, ein ganz kleiner Theodor Lohse.
Efrussi verlangte eine Bestätigung. Er steckte den Scheck in einen Umschlag, und: »Gehen Sie zu Major Pauli«, sagte er. Er befahl, Theodor gehorchte, er ging zu Major Pauli, er begriff, er wußte. Groß war die Macht Efrussis, stärker war er als irgendein Theodor Lohse, man hörte niemals auf, sein Hauslehrer zu sein, sein Diener, sein Abhängiger. Und der alte Haß erwachte, schrie in Theodor: Blut, Blut, Judenblut!
Erst als er vor dem Major Pauli stand, straffte sich der Schlaffgewordene, verlor sich seine gelockerte Haltung, wandelte sich seine Wehmut in Respekt, und mit schneller Sorgfalt raffte er alle Kräfte zusammen und machte sie einem einzigen Zweck nur dienstbar: der militärischen Strammheit. Über der Erinnerung an den lästigen Bittgang zu Efrussi schwebte die Stimme des Majors. Den Klang seiner zusammengeschlagenen Hacken trug Theodor fort in sein Arbeitszimmer, kein Abenteuer drohte ihm mehr, Boten kamen, Briefe schnitt er mit dem glatten Papiermesser auf, dessen kühle Elfenbeinfläche er liebkoste.
IX
Manchmal kam der Bruder des toten Klitsche. Er diente bei der Reichswehr, er nahm die strammste Haltung an, wenn er sprach, er sagte in einer Minute fünfzehnmal Herr Leutnant und besaß dennoch eine unbestimmte Vertraulichkeit mit allen Dingen dieses Zimmers. Sein Auge grüßte Tapeten, Decke, Diele wie alte Bekannte. Er war auf diesem Sofa gelegen, auf diesem Stuhl gesessen, und er sah dem toten Klitsche ähnlich. So ähnlich, daß Theodor das Angesicht des Toten nicht vergessen konnte und nicht, weshalb er eigentlich hier saß, arbeitete, arbeitete und wuchs.
Wäre dieser Bruder Klitsches nicht gewesen, Theodor hätte innegehalten – er wußte es nicht bestimmt, wahrscheinlich hätte er gerastet. Nach einer Pause sehnte er sich manchmal. Dann aber stieg das Angesicht Klitsches auf und Günthers, und Theodor arbeitete. Er hat beide getötet, nicht umsonst hat er sie getötet. Den einen anzuzeigen war seine Pflicht gewesen, den anderen, der vielleicht schon tot war, ehe er den Schlag erhalten hatte, zu töten, das war eine Aufgabe, die Früchte tragen sollte.
Aber es kamen Abende, an denen Theodor sich mit der Frage beschäftigen mußte, ob die Toten endgültig tot seien. Dann ging er in die Kaiser-Wilhelm-Diele, in die kleine Bar, wo man ihn kannte, guten Tag, Herr Leutnant, sagte und seinen Besuch schätzte. Ein paar Kameraden seiner Gruppe umschmeichelten ihn, machten ihm Platz in der Mitte, sahen ihm auf den Mund und – erkannten sie an den ersten Sätzen, daß es eine lustige Geschichte würde, dann lachten sie und waren erschüttert von Theodors Humor. Theodor kannte viele Geschichten, er war Held und Mittelpunkt aller, er hatte nicht umsonst jahrelang zugehört und gelacht; jetzt wußte er, daß der Erzählende Mittelpunkt sein mußte. Manchmal auch vergaß er und glaubte, manches selbst erlebt zu haben. Denn er trank, und auch der Beifall berauschte ihn, und er saß rittlings auf hohem Barstuhl, und ihm war, als galoppierte er.
Er hörte das Gelächter der Freunde aus der Ferne, die Musik, die im großen Saale spielte und unhörbar gewesen war, rückte näher, sie spielte das Lied vom schwarzbraunen Mädchen, und es war Theodor zum Weinen traurig, und er wunderte sich nur, daß die Bardame lächelte.
Er trank noch einen Gemischten und sank vom Stuhl und erwachte morgens.
Oh, wie gern hätte er sich einer anderen Art der Entspannung hingegeben! Es war schön hinauszufahren, der Sommer lag breit und mächtig über der Welt, und in den Wäldern war… In den Wäldern gefiel es Theodor nicht, die Toten lagen in den Wäldern, sie wurden von Würmern gefressen, und grünes Gras sproßte aus ihrem Gebein.
Einmal kam die Ruhe, spät, auf den Gipfeln erst war sie, weit war der Weg und Theodor müde.
Aber es trieb ihn zu den Gipfeln, er sah sie nicht, kannte sie nicht, er konnte sie sich kaum vorstellen. In ihm schrie es: aufwärts, um ihn schrie es: aufwärts, schon kannte er die Wege, schon war er ein Gruppenführer, schon lebte er mit Journalisten gut, er kannte den großen Politiker Hilper, er ging auf die Galerie des Reichstags, er hörte sich selbst schon reden, er sah sich in diesem Saal, an der Spitze seiner Leute, hörte seinen schrillen Pfiff, er schlug auf die Abgeordneten, verjagte sie, er schrie: Hoch die Diktatur! Oben, hoch oben in der Nähe des Diktators, stand Theodor.
Er entsann sich seiner alten Methode: er trat in direkten Verkehr mit Hohen und Höchsten. Jetzt kannte er sie. Über seinem »Major Seyfarth« stand der »Marinekapitän Hartmut«. Theodor ersann Pläne; er suchte das Leben, die Gewohnheiten jüdischer und sozialistischer Männer zu erkunden; manches erfuhr er, anderes erfand er. Er schrieb im »Nationalen Beobachter« über eine erfundene Verbindung eines Politikers mit französischen Spionen und schlug ein Attentat vor. Er war klug und fand Anhaltspunkte für jede Beschuldigung. Er übertrieb, korrigierte Tatsachen, sein Verdacht ruhte auf irgendeinem Ereignis. Manchmal erriet er eine geheime Verbindung. Journalisten machten ihn auf unscheinbare Vorfälle aufmerksam. Er schickte seine Spione aus. Er wußte, daß jeder dieser Spitzel übertrieb. Er vergrößerte ihre Übertreibungen.