Йозеф Рот

Gesammelte Werke von Joseph Roth


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entsann er sich, daß er noch die bunten Orden an seiner Brust trug, die ihm Willi gekauft hatte. Er riß sie schnell herunter und behielt sie in der Faust. Gleichzeitig bemerkte er, daß die Wände des Gerichtssaales aus blaßblauen Kacheln bestanden, nämlich denen der Toilette im Café Halali. Von der Decke, die unendlich hoch sein mußte, zu der er aber nicht emporzublicken wagte, wehte es kühl und duftend, wie im Sommer aus einem verdunkelten Friseurladen.

      Er hustete einmal kurz und begann zu sprechen. Er fing mit der Schilderung der Szene auf der Plattform an. Aber der Richter streckte seine lange, schöne Hand aus, die aus den weiten Ärmeln der Toga weiß und edel herauswuchs, und machte eine abwehrende Bewegung. Zugleich ertönte seine Stimme, weich und dunkel, obwohl er die Lippen gar nicht bewegte. Das schien Andreas sehr wunderbar. Er hatte einmal als Knabe einen Bauchredner gehört. Aber dessen Stimme hatte grölend geklungen. Außerdem war ein Richter bestimmt kein Bauchredner. Wie aber war es dennoch möglich, daß er mit geschlossenen Lippen klar und rein die Worte sprach:

      »Andreas, was hast du auf dem Herzen?«

      Andreas wunderte sich noch mehr über das »Du«. Aber plötzlich fiel ihm ein, daß er ja ein kleiner Junge war. Er trug kurze Hosen. Er hatte beide Beine und war barfuß. Seine Knie waren vom letzten Fall auf die Kieselsteine des Schotterhaufens am Flußufer zerschunden, rot und brennend.

      Er dachte gerade über diese seltsame Verwandlung nach, als Musik ertönte. Im ersten Augenblick erinnerte sie an den Leierkasten. Dann aber schwollen die Klänge an, sie rauschten, fluteten, sanken wieder in sich zusammen, begannen zu flüstern, entfernten sich und kehrten zurück. Viele Menschen waren im Saal. Sie knieten nieder. Die Kerzen zu beiden Seiten des Kreuzes brannten golden und verbreiteten einen Duft von Weihrauch und Stearin.

      Da begriff Andreas, daß er tot war und vor dem himmlischen Richter. Auch war er kein Knabe mehr. Er allein stand im ganzen Saal unter tausend Knienden. Er trat einen Schritt vor und stieß die Krücke auf, aber sie verursachte kein Geräusch. Andreas merkte, daß er auf weichen Wolken stand. Er erinnerte sich an die Rede, die er für die irdische Gerichtsverhandlung präpariert hatte. Ein starker Zorn wuchs in ihm, sein Angesicht flammte, und seine Seele gebar Worte, zornige, purpurne Worte, tausend, zehntausend, Millionen Worte. Nie hatte er sie gehört, gedacht oder gelesen. Tief in ihm hatten sie geschlafen, gebändigt von dem armseligen Verstand, verkümmert unter der grausamen Hülle des Lebens. Jetzt sprossen sie auf und fielen von ihm ab wie Blüten von einem Baum. Im Hintergrund klang leise und in feierlicher Wehmut die Musik. Andreas hörte sie zugleich mit dem Rauschen seiner eigenen Rede:

      Aus meiner frommen Demut bin ich erwacht zu rotem, rebellischem Trotz. Ich möchte Dich leugnen, Gott, wenn ich lebendig wäre und nicht vor Dir stünde. Da ich Dich aber mit meinen Augen sehe und mit meinen Ohren höre, muß ich Böseres tun als Dich leugnen: ich muß Dich schmähen! Millionen meinesgleichen zeugst Du in Deiner fruchtbaren Sinnlosigkeit, sie wachsen auf, gläubig und geduckt, sie leiden Schläge in Deinem Namen, sie grüßen Kaiser, Könige und Regierungen in Deinem Namen, sie lassen sich von Kugeln eiternde Wunden in die Leiber bohren und von dreikantigen Bajonetten in die Herzen stechen, oder sie schleichen unter dem Joch Deiner arbeitsreichen Tage, sonntägliche, saure Feste umrahmen mit billigem Glanz ihre grausamen Wochen, sie hungern und schweigen, ihre Kinder verdorren, ihre Weiber werden falsch und häßlich, Gesetze wuchern wie tückische Schlingpflanzen auf ihren Wegen, ihre Füße verwickeln sich im Gestrüpp Deiner Gebote, sie fallen und flehen zu Dir, und Du hebst sie nicht auf. Deine weißen Hände müßten rot sein, Dein steinernes Angesicht verzerrt, Dein gerader Leib gekrümmt, wie die Leiber meiner Kameraden mit Rückenmarkschüssen. Andere, die Du liebst und nährst, dürfen uns züchtigen und müssen Dich nicht einmal preisen. Ihnen erläßt Du Gebete und Opfer, Rechtschaffenheit und Demut, damit sie uns betrügen. Wir schleppen die Lasten ihres Reichtums und ihrer Körper, ihrer Sünden und ihrer Strafen, wir nehmen ihnen den Schmerz und die Sühne ab, ihre Schuld und ihre Verbrechen, wir morden uns selbst, sie brauchen es nur zu wünschen; sie wollen Krüppel sehen, und wir gehen hin und verlieren unsere Beine aus den Gelenken; sie wollen Blinde sehen, und wir lassen uns blenden; sie wollen nicht gehört werden, also werden wir taub; sie allein wollen schmecken und riechen, und wir schleudern Granaten gegen unsere Nasen und Münder; sie allein wollen essen, und wir mahlen das Mehl. Du aber bist vorhanden und rührst Dich nicht? Gegen Dich rebelliere ich, nicht gegen jene. Du bist schuldig, nicht Deine Schergen. Hast Du Millionen Welten und weißt Dir keinen Rat? Wie ohnmächtig ist Deine Allmacht! Hast Du Milliarden Geschäfte und irrst Dich in den einzelnen? Was bist Du für ein Gott! Ist Deine Grausamkeit Weisheit, die wir nicht verstehen – wie mangelhaft hast Du uns geschaffen! Müssen wir leiden, weshalb leiden wir nicht alle gleich? Hast Du nicht genug Segen für alle, so verteile ihn gerecht! Bin ich ein Sünder – ich wollte Gutes tun! Weshalb ließest Du mich die kleinen Vögel nicht füttern? Nährst Du sie selbst, dann nährst Du sie schlecht. Ach, ich wollte, ich könnte Dich noch leugnen. Du aber bist da. Einzig, allmächtig, unerbittlich, die höchste Instanz, ewig – und es ist keine Hoffnung, daß Dich Strafe trifft, daß Dich der Tod zu einer Wolke zerbläst, daß Dein Herz erwacht. Ich will Deine Gnade nicht! Schick mich in die Hölle!

      Die letzten Sätze hatte Andreas nach einer unbekannten fremden, wunderbaren Melodie gesungen. Immer noch klang die Musik wie ein Orchester aus tausend Seufzern.

      Da hob der Richter die Hand, und seine Stimme tönte: »Willst du ein Diener im Museum sein oder Wächter in einem grünen Park oder einen kleinen Tabakverschleiß an der Straßenecke haben?«

      »Ich will in die Hölle!« antwortete Andreas.

      Da war auf einmal Muli, der kleine Esel, neben Andreas und führte den Leierkasten, aus dem Töne drangen, obwohl die Kurbel nicht bewegt wurde. Der Papagei Ignatz stand auf Andreas’ Schulter. Der Richter erhob sich, er wurde groß und größer, sein graues Angesicht begann weiß zu leuchten, seine roten Lippen öffneten sich und lächelten. Andreas begann zu weinen. Er wußte nicht, ob er im Himmel oder in der Hölle war.

      Man sperrte die Herrentoilette im Café Halali und ließ die Herren in die Damenabteilung für diesen Abend. Nachdem sich alle Gäste entfernt hatten, schaffte man die Leiche Andreas Pums weg. Sie kam nach einigen Tagen, weil gerade Leichenmangel war und obwohl sie nur ein Bein hatte, ins Anatomische Institut und erhielt, dank einem geheimnisvollen Zufall, die Nummer 73, dieselbe, die der Häftling Andreas getragen hatte. Ehe man die Leiche in den Seziersaal trug, kam Willi, um Abschied zu nehmen. Er wollte gerade anfangen zu weinen. Da fiel ihm schnell das Lied ein, das er immer zu pfeifen pflegte.

      Und pfeifend ging er, einen Greis für die Toilette suchen.

      Ein Bericht

       Inhaltsverzeichnis

       Vorwort

       I

       II

       III

       IV

       V

       VI

       VII

       VIII

       IX

       X