Urteil ist falsch, weil alles auf der Welt so tief miteinander verknüpft ist, dass du einen kleinen Ausschnitt davon niemals einschätzen kannst, solange du nicht das Ganze kennst. Alles geht nahtlos ineinander über, denn alles hängt zusammen. Dieser Augenblick hängt mit der gesamten Vergangenheit und der gesamten Zukunft zusammen. Die ganze Ewigkeit trifft sich in ihm. Alles, was je geschah, ist. Alles, was jetzt geschieht, ist. Alles, was je geschehen wird, ist. Wie wollt ihr da etwas beurteilen? Die Welt besteht nicht aus Teilen. Wäre es so, könnte man die einzelnen Fragmente erkennen; aber die Welt ist eine Einheit. Alle Urteile sind falsch, weil sie einseitig sind – aber sie erheben immer den Anspruch, für das Ganze zu stehen.
Ja, Jesus hat absolut recht: „Richte nicht deinen Nächsten“, denn indem du urteilst, verschließt du dich. Etwas wird taub in dir. Deine Empfindlichkeit geht verloren, und mit ihr alle Hoffnung auf Wachstum. Sobald du urteilst, schrumpft etwas in dir; sobald du urteilst, bleibst du stecken; sobald du urteilst, hörst du zu blühen auf. Es gehört also sehr viel dazu, den Mut aufzubringen, nicht zu urteilen. Es gehört tatsächlich ungeheurer Mut dazu, denn der Verstand ist darauf versessen zu urteilen. Darauf versessen, über Gut und Böse, Richtig und Falsch zu Gericht zu sitzen. Und der Verstand ist dabei sehr kindisch: er hüpft beliebig von einem Urteil zum andern. Wenn du also überhaupt deinen Verstand hinter dir lassen willst – und anders kannst du niemals innerlich zu wachsen beginnen –, so urteile nicht.
Ich will euch eine kleine Geschichte erzählen: Sie geschah in den Tagen des Laotse in China, und Laotse hat sie sehr geliebt. Und die Jünger des Laotse haben sie Generation für Generation weitererzählt, und immer neue Bedeutung in dieser Geschichte entdeckt. Dabei ist die Geschichte weiter gewachsen – wie etwas Lebendiges.
Die Geschichte ist einfach: Es gab einmal in einem Dorf einen alten Mann, der sehr arm war, aber trotzdem von Königen beneidet wurde – denn er besaß ein schönes weißes Pferd. Ein Pferd von solcher Qualität war noch nie gesehen worden – solche Schönheit, solcher Stolz, solche Stärke! Könige bewarben sich um das Pferd und boten fabelhafte Preise, aber der alte Mann kannte nur eine Antwort: „Dieses Pferd ist für mich kein Pferd, sondern ein Mensch, und wie kann man einen Menschen verkaufen? Es ist ein Freund, es ist kein Besitz. Soll ich meinen Freund verkaufen? Nein, das kommt nicht in Frage.“ Der Mann war arm und hatte allen Grund, der Versuchung zu erliegen, aber er verkaufte das Pferd nie.
Eines Morgens entdeckte er plötzlich, dass das Pferd nicht mehr im Stall war. Das ganze Dorf versammelte sich, und alle sagten: „Das hast du davon, alter Narr! Wir haben es vorher gewusst, eines Tages musste das Pferd ja gestohlen werden! Und wie kannst du bei deiner Armut einen solchen Schatz richtig behüten? Du hättest wirklich besser daran getan, das Pferd zu verkaufen. Du hättest astronomische Summen dafür verlangen können, jeden Phantasiepreis. Jetzt ist das Pferd weg. Jetzt siehst du, was für ein Fluch, was für ein Unglück es für dich war.“
Der alte Mann sagte: „Ihr müsst nicht übertreiben! Sagen wir einfach: das Pferd ist nicht im Stall. Das ist die einzige Tatsache; alles andere ist Interpretation. Ob es nun ein Unglück ist oder nicht, wie wollt ihr das wissen? Wie könnt ihr das beurteilen?“
Die Leute sagten: „Uns kannst du nichts vormachen; wir mögen zwar keine großen Philosophen sein, aber hier braucht man auch keine Philosophie. Es ist eine klare Tatsache, dass ein Schatz verloren gegangen ist, und das ist ein Unglück.“
Der alte Mann erwiderte: „Ich bleibe dabei: die einzige Tatsache ist, dass der Stall leer und das Pferd fort ist. Darüber hinaus weiß ich nichts, ob Unglück oder Segen – denn so ein Urteil ist begrenzt; und niemand weiß, was noch kommt.“
Er wurde ausgelacht. Die Leute hielten den alten Mann für verrückt. Sie hatten es schon immer gewusst, dass er nicht ganz richtig im Kopf war; sonst hätte er ja sein Pferd verkauft und in Saus und Braus gelebt… Stattdessen fristete er sein Leben als Holzfäller. Obwohl er sehr alt war, fällte er immer noch Bäume, brachte das Holz aus dem Wald und verkaufte es. Er lebte von der Hand in den Mund, hatte nur das Nötigste und nie wirklich genug. Aber jetzt war ihnen endgültig klar, dass er verrückt war.
Nach vierzehn Tagen kam plötzlich eines Nachts das Pferd zurück. Es war nicht gestohlen worden: es war nur in die Wildnis gelaufen. Und es kam nicht nur zurück, sondern brachte auch noch zwölf andere Wildpferde mit. Und wieder kamen die Leute zusammen, und sagten: „Alter, du hast recht gehabt; wir haben uns geirrt. Es war kein Unglück, sondern ein Segen. Es tut uns leid, dass wir dir Vorwürfe gemacht haben.“
Und der alte Mann sagte: „Ihr geht schon wieder zu weit. Könnt ihr nicht einfach sagen, dass das Pferd zurück ist und dass es zwölf andere Pferde mitgebracht hat? Warum urteilt ihr? Wer will den wissen, ob es ein Segen ist oder nicht? Es ist nur ein Bruchstück, und wenn man den ganzen Zusammenhang nicht kennt, wie kann man dann urteilen? Wie könnt ihr über ein Buch urteilen, wenn ihr nur eine Seite gelesen habt? Wie könnt ihr über eine ganze Seite urteilen, wenn ihr nur einen Satz davon gelesen habt? Wie könnt ihr über den Satz urteilen, wenn ihr nur ein Wort davon gelesen habt? Und was ihr in der Hand haltet, ist weniger als ein Wort – das Leben ist so unendlich. Ihr habt nur das Bruchstück eines Wortes in der Hand und habt über die ganze Welt geurteilt. Sagt also nicht, dass dies ein Segen ist, denn wer weiß… Und ich bin völlig damit zufrieden, dass ich es nicht weiß. Lasst mich also bitte in Ruhe.“
Diesmal hielten die Leute den Mund. Vielleicht hatte der alte Mann ja wieder Recht. Also sagten sie nichts, aber im Stillen wussten sie natürlich, dass er sich irrte. Zwölf herrliche Pferde waren mit dem einen Pferd zurückgekommen! Wenn sie ein bisschen eingeritten wurden, konnten sie bald alle verkauft werden und massenhaft Geld einbringen.
Der alte Mann hatte einen jungen Sohn – es war sein einziger. Dieser Sohn begann nun, die Wildpferde zu zähmen; eine Woche später stürzte er von einem der Pferde und brach sich beide Beine. Wieder kamen die Leute zusammen. Und die Leute sind überall ‚die Leute‘; überall sind sie wie ihr. Und wieder urteilten sie sofort. Wie schnell ein Urteil feststeht! Sie sagten: „Du hattest recht. Was du geahnt hast, hat sich wieder einmal bestätigt. Es war kein Segen, es war doch ein Unglück. Dein einziger Sohn hat seine Beine verloren! Wer soll jetzt die Stütze deiner alten Tage sein? Jetzt bist du ärmer denn je.“
Der alte Mann sagte: „Könnt ihr denn nicht einmal aufhören mit eurem Urteilen? Ihr geht schon wieder zu weit – sagt einfach, dass mein Sohn seine Beine gebrochen hat. Keiner weiß, ob das nun ein Unglück oder ein Glück ist. Keiner. Es ist wieder nur ein Bruchstück, und wir bekommen nie mehr als Bruchstücke zu sehen. Das Leben zeigt sich uns nur in Fragmenten, aber unsere Urteile fällen wir immer über das Ganze.“
Ein paar Wochen später geschah es, dass ein Krieg mit dem Nachbarland ausbrach, und alle jungen Männer wurden zur Armee eingezogen. Nur der Sohn des alten Mannes blieb zurück, weil er ein Krüppel war.
Die Leute kamen zusammen, weinend und klagend, denn aus jedem Hause wurden die jungen Männer mit Gewalt abgeholt. Und es bestand keine Aussicht, dass sie je wiederkämen, denn das Land, mit dem Krieg geführt wurde, war ein sehr großes Land, und die Schlacht war von vornherein verloren. Also würden sie nicht zurückkommen…
Das ganze Dorf weinte und klagte, und sie kamen zu dem alten Mann und sagten: „Wie recht du hattest, Alter! Weiß Gott, wie recht du hattest – es war ein Segen: dein Sohn mag zwar ein Krüppel sein, aber wenigstens bleibt er bei dir. Unsere Söhne werden wir nie wieder sehen. Er wenigstens lebt und ist bei dir, und nach und nach wird er schon wieder das Laufen lernen. Vielleicht wird er noch ein bisschen humpeln, aber er wird wieder in Ordnung kommen.“
Der alte Mann wehrte ab: „Es ist einfach unmöglich, mit euch Leuten zu reden. Ihr könnt es einfach nicht sein lassen – ewig diese Urteile. Niemand weiß etwas! Sagt doch nur, dass eure Söhne in die Armee geholt worden sind, und mein Sohn nicht. Aber ob das nun ein Segen ist oder ein Unglück, das weiß niemand. Kein Mensch wird das je wissen. Nur Gott weiß es.“
Und wenn wir sagen: „Nur Gott weiß es“, dann heißt das, dass nur das Ganze es weiß. Urteile nicht, sonst wirst du dich niemals mit dem Ganzen vereinigen können. Dann wirst du immer nur an den Bruchstücken kleben, und aus den geringsten Anlässen große Schlüsse ziehen.