Ortwin Ramadan

Moses und das Mädchen im Koffer


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      Moses und das Mädchen im Koffer

      Kriminalroman

      1

      Stille. Nirgendwo gab es ein Fenster. Nur eine Tür aus grauem Stahl. Sie schrie und hämmerte panisch dagegen. Niemand antwortete. Dabei hätte sie schwören können, dass sie jemanden atmen hörte. Verwirrt blickte sie sich um. Der gut ausgeleuchtete Raum bot kein Versteck, das man nicht hätte einsehen können. Weder hinter den rosa lackierten Holzmöbeln noch unter dem schlichten weißen Kinderbett. Auch in der gekachelten, mit Bärchenstickern verzierten Waschecke und hinter der durch eine halbhohe Wand abgetrennten Kindertoilette konnte sich niemand verbergen.

      Sie sah nach oben. An der Zimmerdecke aus nacktem Beton hing eine Kamera, die auf sie gerichtet war. »Machen Sie die Tür auf! Sofort!«

      Sie hämmerte erneut dagegen. Plötzlich vernahm sie ein leises Kichern. Es klang wie das Glucksen eines fröhlichen Kindes.

      »Hallo, Claire. Wie geht es dir?«

      Sie erschrak. Es war die Stimme eines Fremden, sie klang jedoch weich und liebevoll. Es musste einen versteckten Lautsprecher geben.

      Sie ließ ihren Blick über die mit Tierpostern und Kinderzeichnungen beklebten Wände wandern. Aber sie konnte ihn nicht sehen.

      »Was wollen Sie von mir?«, stieß sie zitternd hervor. »Wer … wer sind Sie?«

      »Du weißt doch, wer ich bin.«

      Für einen Moment vergaß sie ihre Angst: Sie war einfach nur wütend. »Ich bin nicht Claire! Und ich kenne auch keine Claire«, schrie sie zornig. »Machen Sie die Tür auf! Ich will nach Hause!«

      »Du bist zu Hause, Claire.«

      »Mein Name ist nicht Claire!«, brüllte sie aus Leibeskräften. Sie rannte hinüber zum Bett und warf sich auf die weiche Federbettdecke.

      Als sie den Kopf wieder hob, bemerkte sie entsetzt, dass ihr das Auge der Deckenkamera gefolgt war. Wieder erklang das Kichern.

      »Natürlich ist er das. Und es ist ein sehr schöner Name.«

      Ihr lief es eiskalt den Rücken herunter. Sie stand auf, riss einen Plüschpinguin aus dem Regal neben dem Bett und schleuderte ihn in Richtung Kamera. »Sie sind ja komplett irre! Was wollen Sie überhaupt von mir?«

      »Ich will dein Glück, Claire. Und dass dir niemals etwas passiert.«

      Sie trat gegen die Stahltür. So fest, dass ihr Fuß zu schmerzen begann. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

      »Lassen Sie mich raus«, flehte sie. »Meine Eltern haben bestimmt schon längst die Polizei gerufen.«

      Der Unsichtbare lachte. »Möchtest du singen, Claire?«

      Ohne eine Antwort abzuwarten, begann er mit sanfter Stimme zu singen. Die Melodie kam ihr bekannt vor, es war ein Kinderlied:

       Wohl ein einsam Röslein stand

       Welk und matt am Wege

       Von des Sommers Glut verbrannt

       Armes Röslein unbekannt

       Ohne Lieb und Pflege

      Sie presste sich die Hände auf die Ohren und setzte sich auf den Rand des Bettes. Sie wollte das nicht hören. Sie wollte, dass es aufhörte. Sofort!

      Aber das tat es nicht.

      2

      Moses musterte den Horizont. Was er sah, gefiel ihm nicht. Anders als vorhergesagt, schob sich von See her eine dunkle Wolkenwand heran, und sie hielten genau darauf zu. Noch bevor sie die Elbmündung erreichten und Segel setzten, würde es vermutlich eine Sturmwarnung geben.

      Der Wind hatte bereits merklich aufgefrischt.

      »Sieht so aus, als könnte unser Törn ungemütlich werden«, rief ihm Juliane vom Bug aus zu.

      Sie hantierte an der Persenning des Focksegels. Ihre geöffnete weiße Jacke blähte sich im Wind und die halblangen dunkelblonden Locken umtanzten ihr Gesicht. Sie drehte sich um und musterte konzentriert den Himmel.

      Wieder einmal fielen Moses ihre feinen Gesichtszüge und die Anmutigkeit ihrer Bewegungen auf. »Willst du lieber umkehren?«, rief Moses über das Motorengeräusch hinweg. Er drehte am Steuerrad der Katharina, um mehr Abstand zum Ufer zu gewinnen.

      »Nein, auf keinen Fall!«, erwiderte Juliane. »Vielleicht haben wir Glück, und es zieht vorüber.« Sie zurrte den Knoten fest, dann balancierte sie über das Deck und sprang leichtfüßig zu ihm in das tiefer liegende Heck. Lächelnd gab sie ihm einen Kuss auf die Wange, bevor sie die Stirn wieder in Falten legte. »Ich will nicht schon wieder zurück in die Stadt, ich brauche mal einen Tag ohne Studenten, die einem Löcher in den Bauch fragen und trotzdem alles besser wissen.«

      »Ich dachte, dir gefällt dein Job an der Uni«, erwiderte Moses, ohne das gewaltige Containerschiff aus den Augen zu lassen, das ihnen auf der Elbe entgegenkam. »Immerhin bringen dich deine Sprachforschungen um die halbe Welt. Dann hättest du nicht Linguistin werden dürfen.«

      »Ich beschwer mich ja gar nicht, aber …« Juliane fasste mit den Händen ihre fliegenden Haare zusammen und band sie mit einem Haarband zu einem Pferdeschwanz. »Jeder braucht mal eine Pause zum Durchatmen. Das gilt übrigens auch für dich.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und zog ihm die Wollmütze ins Gesicht. »Deswegen mache ich uns jetzt einen Kaffee. Es wird Zeit für ein Frühstück.«

      Moses schob die Mütze wieder hoch. Nachdem Juliane in die Kajüte hinabgestiegen war, warf er einen Blick über die Schulter, ohne das entgegenkommende Containerschiff aus den Augen zu verlieren. Seitdem sie die Jacht im Morgengrauen startklar gemacht hatten, verbarg sich die Sonne hinter einem milchigen Schleier. Dabei hatte der Wetterbericht gestern noch einen strahlenden Herbsttag vorhergesagt, perfektes Segelwetter also. Und nun versprach ihr lange geplanter Ausflug zu einer ziemlich nassen Angelegenheit zu werden. Nicht gerade ideale Bedingungen, um die neue Ruderanlage zu testen. Sie hatte Moses eine ganze Stange Geld gekostet, und nicht zum ersten Mal hatte er mit dem Gedanken gespielt, das Boot zu verkaufen. Er musste sich eingestehen, dass die Arbeit bei der Mordkommission ihm kaum Zeit fürs Segeln ließ. Trotzdem brachte er es einfach nicht übers Herz, die Katharina zu verkaufen. Nicht nur, weil die dreißig Jahre alte, von Sparkman & Stephens entworfene Jacht eine echte Rarität war, die obendrein über herausragende Segeleigenschaften verfügte. An ihr hingen einfach zu viele Erinnerungen. Auf ihr hatten sein Bruder Henning und er die ersten Segelhandgriffe gelernt. Moses musste unwillkürlich lächeln, wenn er daran zurückdachte. Bei den gemeinsamen Ausflügen mit ihrem Vater hatte er zum ersten Mal das Gefühl gehabt, endlich angekommen zu sein, vergessen zu können, dass ihr Vater eigentlich nur Hennings leiblicher Vater war, ihre Mutter nur Hennings leibliche Mutter, Henning weiß war, er schwarz, Henning in Hamburg geboren war und er irgendwo in Afrika. Obwohl Moses’ Adoptiveltern immer versucht hatten, ihn den Unterschied zwischen seinem Bruder und ihm nicht spüren zu lassen, gab es Momente, in denen er trotzdem offensichtlich war. Beim Segeln hatte Moses all das ausblenden können. Die Weite des Wassers hatte ihn vieles vergessen lassen.

      Er wischte sich einen Sprühstoß aufgepeitschten Elbwassers aus dem Gesicht und umfasste wieder das Steuerrad. Er konnte spüren, wie das Boot gegen die vom Meer her einlaufende Flut ankämpfte. Bis sie den Nord-Ostsee-Kanal passiert hatten und das offene Meer erreichten, würde es noch dauern. Sie hatten gerade einmal den Bishorster Sand hinter sich gelassen. Moses korrigierte ein wenig den Kurs, um dem Schlepper mehr Raum zu geben, der den unter chinesischer Flagge fahrenden Containerriesen auf seinem Weg in den Hamburger Hafen begleitete.

      In dem Niedergang zu seinen Füßen erschien Julianes Kopf. Statt eines dampfenden Bechers Kaffee streckte sie ihm sein klingelndes Handy entgegen.

      »Wer ist denn dran?«, fragte er, obwohl er die Antwort schon an ihrer finsteren Miene ablesen konnte.

      »Wer