ich dich sofort dahin. Sicher ist sicher.«
»Das schaffe ich schon noch«, erwiderte Juliane schnaufend und betastete vorsichtig ihre Schulter. »Ich komm schon klar.«
»Vielleicht ist ja etwas gebrochen«, wandte Moses ein.
»Wenn es nicht gleich besser wird, fahre ich ins Krankenhaus. Ich muss ja sowieso ein Taxi nehmen.«
Sie klang verärgert, und Moses wusste, dass er bei ihr bleiben sollte. Gleichzeitig zählte bei diesem neuen Fall womöglich jede Minute. »Okay«, sagte er. »Dann mache ich noch das Boot fest und warte mit dir aufs Taxi. Aber wenns schlimmer wird, rufst du mich an, versprochen?«
»Versprochen«, murmelte Juliane. Sie setzte sich auf das Deck und blickte zu ihm hoch. »Aber dann verschwinde und kümmere dich um das Mädchen. Finde den, der das getan hat!«
3
Mit jedem Schritt drang mehr feiner Sand in seine Segelschuhe. Moses versuchte das Scheuern zwischen den Zehen zu ignorieren und schloss den Reißverschluss seiner Jacke. In der kurzen Zeit, die er vom Wedeler Jachthafen bis ins Naturschutzgebiet und zum Parkplatz am Rissener Ufer benötigt hatte, hatte es zu regnen begonnen. Schwere Tropfen klatschten ihm ins Gesicht und hinterließen in dem fast weißen Sand winzige Schlammfontänen. Missmutig stapfte er weiter. Seinen Alfa hatte er auf dem Parkplatz bei dem Einsatzfahrzeug der DLRG stehen lassen, und nun erkannte er, dass der Elbstrand an dieser Stelle viel breiter war, als er ihn in Erinnerung hatte. Am Ende des Strands, unterhalb des rot-weißen Leuchtturms, entdeckte er Katja Helwig sowie drei Kriminaltechniker, die unter einem Zeltdach um etwas herumwuselten, das nah am Wasser lag. Auf den Steinen unterhalb des Leuchtturms langweilten sich zwei Streifenbeamte. Vermutlich hatten sie ebenso wie ihre Kollegen auf dem Parkplatz die Aufgabe, Schaulustige fernzuhalten. Schaulustige, die es hier definitiv nicht gab, denn der Strand und die weit in den Fluss hineinragende Landungsbrücke waren menschenleer. Stattdessen bevölkerte ein Schwarm Seeschwalben den schwimmenden Schiffsanleger. Ihr Geschrei mischte sich mit dem Rauschen der Baumkronen und dem Plätschern der Wellen, die sich an den aufgeschütteten Buhnen brachen. Am anderen Ende des Strands stolzierte ein Weißstorch durch das flache Uferwasser, und der Stückgutfrachter, der sich draußen auf der Elbe flussaufwärts schob, wirkte wie aus einer fernen Welt. Obwohl er in Blankenese aufgewachsen war, hatte Moses diesen Strandabschnitt selten besucht. Wenn man nicht in Richtung Hamburger Hafen sah, wähnte man sich fast in der freien Natur. Zumindest an diesem verregneten Herbstmorgen.
Als Helwig Moses erblickte, kam sie ihm über den Strand entgegen. Wie immer trug sie Lederjacke, Jeans und Schnürstiefel, um die er sie zum ersten Mal beneidete. Seine junge Kollegin trug ihre blonden Haare nicht mehr so kurz wie bei ihrem ersten Zusammentreffen vor wenigen Monaten, als Direktor Bonnekamp sie ohne Absprache in Moses’ Team abgeladen hatte. Helwigs schroffe und ungestüme Art, die sicher aus ihrer Zeit beim Mobilen Einsatzkommando stammte, hatte Moses zu Anfang einige Nerven gekostet. Und das tat sie noch heute. Aber dann hatte ein schwieriger Fall sie gemeinsam an ihre Grenzen gebracht, und seitdem hatte er zu Helwig in gewisser Weise Vertrauen gefasst.
»Ich dachte schon, Sie kommen nie!«, rief sie ihm von Weitem zu. Ihre feuchten Haare hingen in Strähnen wirr um ihr zierliches Gesicht, aus dem Moses große blaue Augen entgegenblickten.
Als Moses sie erreichte, musterte sie seine verschmutzten Segelschuhe und die Bordhose mit hochgezogenen Augenbrauen: »Waren Sie bei dem Schietwetter etwa segeln?«
»Ich hatte heute frei«, erwiderte Moses knapp und wandte den Blick ab, während er unbeirrt an ihr vorbeiging. »Bringen Sie mich einfach auf den Stand der Dinge.«
Helwig schloss zu ihm auf, ihr Gesichtsausdruck verdüsterte sich.
»Ist Ihnen nicht gut?« Moses hielt inne und musterte sie. Erst jetzt fiel ihm auf, dass seine Kollegin ungewöhnlich blass war.
»Doch, doch«, sagte Helwig hastig. »Alles okay.«
Sie setzten sich wieder in Bewegung.
»Die SpuSi ist schon seit einer Stunde zugange«, sagte Helwig, während sie auf das provisorische Zelt zugingen. »Ich konnte die Kollegen schließlich nicht tatenlos rumstehen lassen, bis Sie auftauchen.«
Moses überging den Vorwurf. »Sind Sie allein hier?«
»Leitner ist drüben an der DLRG-Hütte.« Helwig deutete zu einem auf Stelzen gebauten Holzhaus hinüber, das seitlich der Landungsbrücke am Strand stand. »Er nimmt die Personalien der Zeugen auf. Da ist es natürlich schön trocken …«
»Es gibt Zeugen?«, fragte Moses sofort.
»Spaziergänger. Ein Rentnerpaar, das hier in der Nähe wohnt, und noch ein Hundebesitzer. Sie haben das Ding aus dem Wasser gezogen und aufgemacht.«
Moses verzichtete auf weitere Fragen und beschleunigte seinen Schritt, denn der Regen wurde immer heftiger. Je schneller er die Sache hinter sich brachte, desto besser. Also bereitete er sich innerlich auf das vor, was ihm bevorstand. Auch wenn er es rational nicht erklären konnte, die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass der erste Eindruck entscheidend war. Umso mehr wurmte ihn, dass er diesmal viel zu spät am Tatort eintraf. Auch wenn dies vermutlich gar nicht der Tatort war, wie er beim Näherkommen erkannte. Denn jetzt konnte er sehen, was sich zu Füßen der Kriminaltechniker unter dem Zeltdach befand: ein riesiger, antik anmutender Koffer.
Moses trat unter das Zeltdach. Der Deckel des alten, mit Holzleisten und Messingbändern beschlagenen Überseekoffers war geschlossen. Den immer noch leicht erkennbaren Schleifspuren am Ufer nach zu urteilen, musste der truhenähnliche Koffer ein Stück weit auf den Strand gezogen worden sein. Neben ihm lagen eine Eisenkette und ein geöffnetes Vorhängeschloss. Wie Moses annahm, war die Kette um den Koffer gewickelt gewesen. Im gleichen Atemzug stellte er fest, dass die Kriminaltechniker ihre Arbeit offenbar bereits beendet hatten. Auch Janssen, der Leiter des Teams, stand auf und zog sich bereits die Latexhandschuhe von den Fingern.
»Ah, der Herr Kommissar!«, begrüßte er Moses. Der Regen prasselte auf die Zeltplane dicht über ihren Köpfen. »Sie kommen diesmal reichlich spät. Wir sind hier so gut wie fertig. Alle weiteren Untersuchungen machen wir lieber im Trockenen.« Er hatte die Kapuze seines weißen Overalls tief ins Gesicht gezogen und machte wie seine beiden Kollegen den Eindruck, als habe er es eilig, die Arbeit nach drinnen zu verlegen.
Moses starrte auf den geschlossenen Koffer. Er wusste natürlich längst, was sich darin befand, und deshalb versuchte er sich innerlich für den Anblick zu wappnen. Dennoch kostete es ihn Überwindung, Janssen um das Öffnen des Koffers zu bitten. Wie jeder Polizist fürchtete er sich vor den Bildern, die man nicht mehr loswurde. Und in seinem Kopf gab es bereits genug davon.
»Diesmal ist es wirklich, äh, ungewöhnlich«, sagte Janssen. »Also machen Sie sich auf etwas gefasst!« Er streifte sich neue Latexhandschuhe über und öffnete den Koffer.
Moses atmete tief ein. Auf diesen Anblick hätte ihn nichts und niemand vorbereiten können.
In dem mit wasserdichter Teichfolie ausgekleideten Koffer lag ein etwa vierzehn oder fünfzehn Jahre altes Mädchen mit zwei geflochtenen blonden Zöpfen. Es war auf rote Samtkissen gebettet und hielt einen Stoffhasen im seinem verdrehten Arm. Das Mädchen trug ein weißes Rüschenkleid mit Goldsternmuster. Seine Fuß- und Fingernägel waren rot lackiert, das Gesicht dick mit Make-up überzogen. Der noch kindliche Mund war mit blutrotem Lippenstift bemalt. Man konnte die Leiche fast für eine lebensgroße Puppe halten.
Moses fuhr sich über das nasse Gesicht. In über siebzehn Jahren bei der Mordkommission war ihm nichts Vergleichbares begegnet. Und wie immer, wenn Kinder oder Jugendliche betroffen waren, verspürte er tiefe Wut in sich aufsteigen, gepaart mit schrecklicher Hilflosigkeit.
Er ließ sich von Janssen einen Overall und Latexhandschuhe reichen. Nachdem er beides übergezogen hatte, näherte er sich dem Koffer, um die Leiche näher in Augenschein zu nehmen. Dank der wasserdichten Folie war die Leiche trocken, das dicke Make-up nicht verwischt. Äußere Verletzungen konnte er nicht erkennen. Auch keine Fesselspuren an den Handgelenken. An einem Handgelenk trug sie nur ein feines goldenes Armband. Als er erst den