Оноре де Бальзак

Die Frau von dreißig Jahren


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Leben und fand so die Kraft aufs neue, ihre schmerzliche Pflicht auf sich zu nehmen. Diese fürchterlichen Kämpfe, diese innere Zerrissenheit blieben unbemerkt, ihre tiefe Schwermut hatte keinen Zeugen. Niemand fing ihren stumpfen Blick auf, niemand sah die bitteren Tränen, die sie heimlich in der Einsamkeit vergoss.

      Die Gefahren der kritischen Situation, in die die Marquise allmählich durch den Zwang der Verhältnisse gelangt war, enthüllten sich ihr in ihrer ganzen Schwere an einem Januarabend des Jahres 1820. Wenn zwei Gatten sich voll und ganz kennen und sich lange aneinander gewöhnt haben, wenn eine Frau die leisesten Gebärden eines Mannes zu deuten versteht und die Gefühle und Dinge, die er ihr verbirgt, erraten kann, dann werden zufällige, erst sorglos hingeworfene frühere Bemerkungen und Betrachtungen mit einem Schlag erhellt. Oft erwacht dann eine Frau plötzlich am Rande oder in der Tiefe eines Abgrunds. So wurde der Marquise, die glücklich gewesen war, ein paar Tage allein zu verbringen, mit einem Male das Geheimnis dieses Alleinseins klar. Sei es, dass ihr Mann treulos oder ihrer müde, großmütig oder mitleidvoll gegen sie war, er gehörte ihr nicht mehr. In diesem Augenblick dachte sie nicht mehr an sich noch an ihre Leiden und Opfer; sie war nur noch Mutter und hatte die Zukunft, das Glück, das Vermögen ihrer Tochter im Auge, ihrer Tochter, des einzigen Wesens, von dem ihr etwas wie Glückseligkeit kam, ihrer Hélène, des einzigen Gutes, das sie ans Leben fesselte. Jetzt wollte Julie leben, um von ihrem Kinde das schreckliche Joch fernzuhalten, unter das eine Stiefmutter das Leben des teuren Geschöpfes zwingen könnte. Als dieses düstere Zukunftsbild vor ihr aufstieg, verfiel sie in solch ein fieberhaftes Nachdenken, das ganze Lebensjahre aufzehrt. Zwischen ihr und ihrem Gatten sollte künftighin eine ganze Welt von Gedanken sein, deren Gewicht auf ihr allein lasten würde. Bis dahin hatte sie sich, in der Gewissheit, von Victor auf seine Weise geliebt zu werden, zu einem Glück hergegeben, das sie nicht teilte; nun aber, da sie nicht einmal mehr die Genugtuung hatte, dass ihre Tränen ihren Mann erfreuten, da sie allein in der Welt war, blieb ihr nur, unter den vielfachen Leiden zu wählen. Inmitten der Mutlosigkeit, die in der Stille der Nacht ihre Energie lähmte, in dem Augenblick, da sie von ihrem Diwan an dem fast erloschenen Feuer aufgestanden war, um im Schein einer Lampe sich mit trockenem Auge in den Anblick ihrer Tochter zu versenken, trat Monsieur d'Aiglemont sehr angeregt ins Zimmer. Julie hieß ihn die schlafende Hélène bewundern, doch er hatte für die Begeisterung seiner Frau nur eine banale Redensart.

      »In diesem Alter«, sagte er, »sind alle Kinder niedlich.« Dann küsste er seine Tochter flüchtig auf die Stirn, ließ die Vorhänge der Wiege herab, blickte Julie an, nahm sie bei der Hand und ließ sie neben sich auf dem Diwan niedersitzen, auf dem sie soeben ihren trüben Gedanken nachgehangen hatte.

      »Sie sind heute abend sehr schön, Madame d'Aiglemont!« rief er mit der unerträglichen Lustigkeit, deren Hohlheit die Marquise nur zu gut kannte.

      »Wo haben Sie den Abend verbracht?« fragte sie ihn mit erheuchelter Gleichgültigkeit. »Bei Madame de Sérisy.«

      Er nahm einen Lichtschirm von dem Kamin und betrachtete interessiert den durchsichtigen Stoff, ohne die Tränenspuren auf dem Gesicht seiner Frau zu bemerken. Julie schauerte zusammen. Die Sprache ist nicht imstande, die Gedanken auszudrücken, die wie ein Strom aus ihrem Herzen hervorstürzen wollten und die sie zurückhalten musste.

      »Madame de Sérisy gibt nächsten Montag ein Konzert und wünscht brennend, dich kennenzulernen. Gerade weil du schon so lange nicht in Gesellschaft gegangen bist, möchte sie dich bei sich sehen. Es ist eine prächtige Frau, die dir sehr zugetan ist. Du würdest mir einen Gefallen tun, wenn du hingingst, ich habe beinahe schon für dich zugesagt ...« – »Ich werde hingehen«, antwortete Julie.

      Der Klang der Stimme, der Ausdruck und Blick der Marquise hatten etwas so Durchdringendes, Eigentümliches, dass Victor trotz seiner Sorglosigkeit seine Frau erstaunt ansah. Doch das war alles. Julie hatte erraten, dass Madame de Sérisy die Frau war, die ihr das Herz ihres Mannes geraubt hatte. Sie versank in ein verzweifeltes Brüten und starrte selbstvergessen ins Feuer. Victor drehte den Lichtschirm in den Händen hin und her und hatte das gelangweilte Aussehen eines Mannes, der anderswo glücklich gewesen ist und ermattet vom Vergnügen heimkommt. Er gähnte mehrmals, ergriff dann mit einer Hand einen Leuchter, tastete mit der andern lässig nach dem Hals seiner Frau und wollte sie küssen; aber Julie bückte sich, reichte ihm ihre Stirn und empfing den Gutenachtkuss, einen lieblosen, mechanischen Kuss, eine grimassenhafte Gebärde, die sie nur zu sehr hasste. Als Victor die Tür geschlossen hatte, sank die Marquise in einen Stuhl; die Knie wankten ihr, sie brach in Tränen aus. Man muss selbst ähnliche Qualen erlitten haben, um alles, was diese Szene Schmerzliches barg, zu verstehen, um einen Begriff von der langen, schrecklichen Tragödie zu bekommen, die sie herbeiführte. Diese einfachen, nichtssagenden Worte, das Schweigen zwischen den beiden Ehegatten, die Mienen, die Blicke, die Art, in der der Marquis vor dem Feuer Platz genommen hatte, die Haltung, mit der er versucht hatte, den Hals seiner Frau zu küssen, alles war zusammengekommen, dass diese Stunde zu einer tragischen Wende in dem einsamen, schmerzensreichen Leben Julies führte. In wildem Taumel warf sie sich vor ihrem Diwan nieder, grub ihr Gesicht in die Kissen, um nichts zu sehen, und flehte zum Himmel, wobei sie den gewohnten Gebetsworten einen innigen Klang, einen neuen Sinn verlieh, die das Herz ihres Mannes hätten zerreißen müssen, wenn er sie gehört hätte. Sie beschäftigte sich acht Tage lang unaufhörlich mit ihrer Zukunft, ging völlig in ihrem Unglück auf, studierte es, suchte nach Mitteln, ihre Macht über den Marquis wiederzugewinnen, ohne ihr Herz zu belügen, und lange genug zu leben, um über das Glück ihrer Tochter zu wachen. Sie beschloss alsdann, mit ihrer Rivalin zu kämpfen, sich wieder in der Gesellschaft zu zeigen, dort zu glänzen, für ihren Mann eine Liebe zu heucheln, die sie nicht mehr empfinden konnte: ihn zu verführen. Wenn sie ihn sich dann durch ihre Künste wieder unterworfen haben würde, wollte sie die Koketterie jener launischen Mätressen gegen ihn spielen lassen, die sich ein Vergnügen daraus machen, ihre Liebhaber zu quälen. Dieses widerwärtige Spiel erschien ihr als das einzige Mittel, sich gegen ihr Unglück zur Wehr zu setzen. Indem sie sich ihren Mann unterwarf und unter ein schreckliches Joch zwang, würde sie Herrin ihrer Leiden bleiben, ihnen gebieten können und ihre Anfälle seltener machen. Sie fühlte keine Gewissensbisse, ihm ein schweres Leben zu bereiten. Jählings stürzte sie sich in kaltblütige Berechnung. Um ihre Tochter zu retten, durchschaute sie mit einem Mal die Ränke und Lügen jener Geschöpfe, die nicht lieben, all den Trug der Koketterie, all die abscheulichen Schliche, die den Männern oft als angeborene Verderbtheit erscheinen und die ihnen die Frauen so verhasst machen. Ihre weibliche Eitelkeit, ihr Eigennutz und ein unbestimmter Wunsch nach Rache verbanden sich ihr unbewusst mit ihrer Mutterliebe, um sie auf einen Weg zu treiben, auf dem nur neue Schmerzen ihrer warteten. Doch sie war zu edel, zu zartfühlend und zu freimütig, um sich lange mit solchem Betrug abzugeben. Da sie gewohnt war, in ihrem Innern zu lesen, musste der Schrei ihres Gewissens beim ersten Schritt in das Laster – denn dies war Laster – die Stimme der Leidenschaft und Selbstsucht übertönen. In der Tat, bei einer Frau, deren Herz rein und deren Liebe jungfräulich geblieben ist, ist selbst die Mutterliebe dem Gefühl der Scham unterworfen. Ist nicht das Schamgefühl das ganze Weib? Doch Julie wollte keine Gefahr, keinen Irrtum in ihrem neuen Leben erkennen. Sie ging zu Madame de Sérisy. Ihre Rivalin erwartete eine blasse, welke Frau zu sehen. Die Marquise hatte Rouge aufgelegt und zeigte sich in dem Glanz einer prächtigen Toilette, die ihre Schönheit noch erhöhte.

      Die Comtesse de Sérisy war eine jener Frauen, die sich anmaßen, eine Art Herrschaft über die Mode und die Gesellschaft in Paris auszuüben. Sie verkündete Urteilssprüche, die, wenn sie in dem Kreis, den sie beherrschte, angenommen wurden, für sie allgemeingültig zu sein schienen. Sie bildete sich ein, Schlagworte zu prägen und unumschränkte Richterin zu sein. Literatur, Politik, Männer und Frauen, alles unterlag ihrer Zensur; und Madame de Sérisy schien jeder Kritik der anderen Trotz zu bieten. Ihr Haus war in jeder Beziehung ein Muster des guten Geschmacks. Inmitten dieser Salons voll eleganter schöner Frauen triumphierte Julie über die Comtesse. Sie war geistreich, lebhaft, sprühend, und die vornehmsten Männer der Gesellschaft umringten sie. Zur Verzweiflung der Frauen war ihre Toilette tadellos. Alle beneideten sie um den Schnitt ihres Kleides, den Sitz ihrer Taille, und man schrieb den Eindruck, den sie machte, dem Genie einer unbekannten Schneiderin zu; denn die Frauen glauben lieber an die Macht des Putzes als an die Anmut und Vollkommenheit derer, die dazu geschaffen sind, ihn zur Geltung zu bringen. Als Julie sich erhob und zum