konnte. Frau Weber wurde fast immer zum Ungeheuer, wenn jemand die Hausaufgaben nicht gemacht hatte.
„Du hast also die Hausaufgaben nicht erledigt! Darf ich den Grund dafür erfahren?“
Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihre Stimme nahm schon eine gefährlich drohende Tonlage an.
„Ich habe nicht daran gedacht. Entschuldigung.“
Noch immer hoffte er, dass sie nicht die Keule rausholte.
„Ich überlege gerade, ob ich dir gleich eine Sechs eintrage, oder ob ich dich lieber zur Leistungskontrolle an die Tafel hole.“
Sie schien sich fast zu freuen, wieder einmal ein Exempel statuieren zu können und runzelte dabei nachdenklich ihre Stirn.
„Willi geh doch bitte an die Tafel. Du bekommst eine zweite Chance.“
Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, dachte sie sich in dem Moment die schwierigsten Fragen aus. Aufgeregt stand Willi auf und trat vor die Klasse. Die anderen Schüler starrten ihn an und verzogen dabei keine Miene.
„Erzähle uns doch bitte etwas über London. Nenne einige Sehenswürdigkeiten und beschreibe uns die Lebensgewohnheiten der Menschen dort. Das steht übrigens alles in deinem Lehrbuch unter Lektion 8.“
Frau Weber schien darauf zu hoffen, dass Willi sich auch sein Buch noch nie angesehen hatte, so listig griente sie ihn an, während sie, ohne ihn aus den Augen zu lassen, um die Schultische ging. Doch da lag sie daneben. Willi konnte diese Aufgabe sehr wohl gut lösen. Schließlich interessierte er sich schon immer für andere Länder und deren Kultur. Sein Englischbuch hatte er deshalb schon mehrmals durchgeblättert und sich glücklicherweise viel gemerkt.
Nachdem Frau Weber eine kurze Bedenkpause eingelegt hatte, pustete sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und kam schweren Schrittes nach vorn an die Tafel.
„Ich denke, du hast heute noch einmal Glück gehabt. Du bekommst für deinen Kurzvortrag eine Zwei-minus. Ein bisschen genauer hättest Du Dir den Text zwar ansehen können, aber Deine Zwei im Zeugnis wird wohl nicht gefährdet sein, wenn Du Dich ein bisschen anstrengst. Setz dich wieder, ich möchte mit dem Unterrichtsstoff fortfahren.“
So gereizt Frau Weber noch vor zehn Minuten gewesen war, so entspannt schrieb sie nun die neuen Vokabeln an die Tafel. Willi atmete erleichtert auf und war stolz auf sich, dass er sich so gut aus der Klemme befreit hatte.
„Hey, grad noch mal gutgegangen. Wenn der Drachen richtig aufdreht, möchte ich nicht dabei sein.“
Georg stupste ihn an und lachte versteckt in seine Faust.
„Ja. Bloß gut, dass ich was wusste. Sonst wäre sie wahrscheinlich ausgerastet und ich meine Zwei wirklich los“, flüsterte Willi und wischte sich symbolisch mit der Hand den Schweiß von der Stirn.
„Machen wir heute Nachmittag was zusammen?“, fragte Georg leise.
„Heut nicht. Ich bin irgendwie kaputt. Vielleicht bekomme ich ja ne Erkältung oder so was. Wenn´s mir besser geht, können wir ja morgen mit den Rädern an den See fahren, was meinst du?“
„Iss ne gute Idee. Ich kann ja …“
Georg unterbrach seinen Satz und starrte erschrocken in das zur Faust geballte Gesicht von Frau Weber. Sie nickte bedeutungsvoll, da sie erkannte, dass ihre wortlose Botschaft, endlich ruhig zu sein, verstanden wurde.
Als Willi von der Schule nach Hause kam, war er noch immer erschöpft und müde. Seine Beine brannten bei jedem Schritt, dafür waren aber wenigstens seine Kopfschmerzen verflogen. Schlapp setzte er sich mit einem tiefen Seufzer aufs Sofa und legte seine Beine auf den danebenstehenden Hocker. Seine Eltern waren nicht zu Hause. Mutter arbeitete halbtags in einer Postfiliale und sein Vater verkaufte Autos. Er kam immer spät heim und war dann meist auch geschafft vom Tag. Seine Mutter hingegen strotzte selbst spät abends noch vor Energie.
Als er den Fernseher einschalten wollte, erblickte er auf der Glasfläche des noch ausgeschalteten Apparates eine menschliche Gestalt. Er erschrak so sehr, dass er ruckartig seine Beine vom Hocker riss, sich kerzengerade aufsetzte und heftig ein- und ausatmete. Rasch drehte er sich um, zum Aufsprung bereit. Schon wieder hatte es seine Hülse geschafft, ihm einen mittleren Herzinfarkt zu bescheren. Sie stand lächelnd in der Stube und blickte unschuldig zu Willi hinüber.
„Mann, kannst du mich erschrecken“, fauchte Willi ihr sehr ärgerlich zu.
Scheinbar ohne die Worte zu verstehen, setzte sich sein Doppelgänger auf das bequeme Sofa und schaltete das Gerät an.
„Na klar, fernsehen. Was anderes fällt dir nicht ein“, sagte Willi und winkte ab.
Sein Ebenbild reagierte überhaupt nicht und hatte vermutlich schon das Programm seiner Wahl gefunden. Zufrieden starrte es in die Flimmerkiste.
„Deine Hülse ist von eurem Fernseher schwer begeistert. Die gibt es bei uns nicht. Ach, übrigens schön, dich wieder zu sehen. Sei gegrüßt, Willi“, krächzte Macvol leise, der ebenso unerwartet wie überraschend in der Stube stand, als ob er die Hülse beim Glotzen nicht stören wollte.
„Hallo. Du bist schon wieder da?“, fragte Willi reichlich konsterniert. „Ja. Bin ich. Gehen wir in dein Zimmer. Hier unten ist es zu gefährlich.“ Macvol ging die Treppe hoch und wartete oben auf Willi, der immer noch stocksteif auf dem Sofa saß.
Er dachte an den gestrigen anstrengenden Tag. Ihm fielen vor Müdigkeit fast die Augen zu und er hätte sich am liebsten nur ausgeruht. Erschöpft stieg er schließlich die kleine Treppe hinauf in sein Zimmer. Macvol hatte es sich auf seinem Bett bereits bequem gemacht und blätterte in einem Buch über Modelleisenbahnen.
„Wozu braucht man diese kleinen Wägelchen? Man kann darin doch gar nichts transportieren?“
Macvol blätterte kopfschüttelnd weiter und riss gelegentlich seine Augen weit auf.
„Das ist Spielzeug, was für Liebhaber. Für den Transport von Gütern ist das nicht gedacht“, erklärte Willi ein wenig verwundert über die Frage und setzte sich an seinen Schreibtisch.
„Hast du in deiner Kindheit nicht mit Eisenbahnen oder Autos gespielt?“
Willi war sehr gespannt auf Macvols Antwort.
„Oh, nein. Zwergenkinder! Ist das schon lange her. Ich bin mittlerweile 166 Jahre alt, aber an eines in meiner Kindheit kann ich mich gut erinnern – Autos oder Eisenbahnen gab es nicht.“
Macvol blickte ein wenig neidisch in das Buch.
„Was hast du denn heute vor?“, unterbrach Willi ihn bei seinem Studium. „Von mir aus können wir auch mit meiner elektrischen Eisenbahn spielen“, sagte er in einem hoffnungsvollen Tonfall.
„Hm, ja, ein anderes Mal vielleicht. Jetzt sollten wir uns besser auf den Weg machen“, sagte Macvol und sprang schlagartig auf.
Scheinbar fiel ihm erst in diesem Augenblick wieder ein, weswegen er eigentlich hergekommen war. Hastig fügte er hinzu:
„Bevor du gegen den Zauberer Hobjark kämpfen kannst, brauchst du Verbündete, nein, Freunde, um überhaupt - um eine Chance zu haben. Und die musst du zunächst finden. Es wird nicht einfach werden, aber es ist möglich.“
Macvol sah Willi fest in die Augen. Ohne seinen Blick zu lösen, sprach er weiter:
„Ehe wir jedoch wieder in meine Welt reisen, gebe ich dir eine Schachtel mit Flaumflocken. Wenn du eine davon verspeist, kannst du allein in unsere Zwergenwelt saltieren. Du könntest auch mit dem Amulett zu uns saltieren, allerdings wird dich das Amulett immer in die Nähe der Wächter bringen, und das könnte sehr gefährlich werden. Übrigens nennt man die gesamte Zwergenwelt ‚Stella Domus‘, sie umfasst viele Planeten. Das kleine Örtchen, wo Alwis wohnt, hast du ja schon kennengelernt. Das heißt übrigens ‚Picabo‘. Picabo befindet sich auf dem Planeten ‚Schabis‘. Hab ich bis jetzt noch