aus. Er trat einen kleinen Schritt von der Tür zurück und blickte vorsichtig zwischen ihnen hin und her. „Das … tja, das bin ich. Aber was wollen Sie von mir?“
„Ich bin sicher, dass Sie die Neuigkeiten hinsichtlich eines Mädchens in Deton gehört haben“, sagte Kate. „Ein Mädchen namens Mercy Fuller.“
Der Ausdruck auf seinem Gesicht sagte Kate alles, was sie wissen musste. Ohne ein Wort gesagt zu haben, hatte er zugegeben, dass er Mercy kannte. Er nickte und wandte dann seinen Blick hinter sich in den Wohnwagen, vielleicht in der Hoffnung um Hilfe von seinem großen Bruder.
„Können Sie mir das bestätigen?“, fragte Kate.
„Ja, ich hab’s gehört. Sie wird vermisst. Und ihre Eltern wurden umgebracht, richtig?“
„Richtig. Mr. Branch, könnten wir bitte hereinkommen und einen Moment mit Ihnen sprechen?“
„Na ja, dies ist nicht mein Haus. Mein Bruder wohnt hier. Und ich weiß nicht, ob er …“
„Ich weiß nicht, ob Sie wissen, wie so etwas hier abläuft“, sagte Kate. „Wir möchten hereinkommen und uns mit Ihnen unterhalten. Das können wir entweder hier tun, oder wir können es - angesichts dessen, was uns über Sie zu Ohren gekommen ist – es auf der Wache in Deton tun. Sie haben die Wahl.“
„Oh“, sagte er. Er sah schwer besorgt aus, wie ein bedrohtes Tier, das nach einem Ausweg sucht. „Na ja, wenn das so ist, kann ich wohl―“
Dann unterbrach er sich selbst, indem er ihnen die Tür vor der Nase zuschlug. Nach dem lauten Knall der ins Schloss fallenden Tür und ein kurzes Zurückschrecken vor dieser unerwarteten Handlung, vernahm Kate schnelle Schritte im Haus.
„Er haut ab“, sagte Kate.
Doch noch bevor Kate die Tür wieder geöffnet hatte, war DeMarco schon von der Veranda gesprungen und sprintete zur Rückseite des Hauses. Kate zog die Waffe, drückte die Tür auf und trat ein.
Aus dem hinteren Teil des Wohnwagens konnte sie weitere Schritte hören und dann das Geräusch einer weiteren Tür, die geöffnet wurde. Eine Hintertür, dachte Kate. Hoffentlich kann DeMarco ihm den Weg abschneiden.
Kate raste durch das Haus, und fand sich in ihrer Annahme bestätigt. Ein leichter Geruch nach Marihuana hing in der Luft, gemischt mit dem Gestank von verschüttetem Bier. Als sie die Küche durchquerte, gelangte sie in einen Flur, von dem zwei Schlafzimmer abzweigten. Dort hinten, am Ende des Flurs, bebte die Tür noch in ihren Angeln, weil jemand soeben hindurch gestürmt war. Sie rannte zur Tür und drückte sie auf, bereit, sich, falls nötig, gegen einen Angriff zu verteidigen. Aber sie hatte die Furcht in Jeremys Augen gesehen. Er würde nicht angreifen, sondern hatte vor, sich aus dem Staub zu machen. Und wenn er es bis zum Waldrand schaffte, der kaum fünf Meter von der Hintertür entfernt lag, könnte ihm das glatt gelingen.
Sie sah ihn, wie er sich den Bäumen näherte, aber dann sah sie auch DeMarco, die ihn von der linken Seite des Hauses einholte. Sie machte sich nicht die Mühe, ihre Waffe zu ziehen oder zu rufen, dass Jeremy stehenbleiben solle. Kate war erstaunt, wie schnell ihr Partner laufen konnte – sie war weitaus schneller als der Teenager.
Sie holte ihn ein, gerade, als er die ersten Bäume am Waldrand erreichte. DeMarco streckte den Arm aus, griff nach seiner Schulter, und riss ihn herum, so dass er sie ansah. Durch den Schwung begann Jeremy sich ein Kreisel zu drehen und vollführte eine dreihundertsechzig-Grad-Drehung, bevor er das Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte.
Kate hastete die wackeligen Stufen der hinteren Veranda hinab, rannte zu DeMarco, und half ihr, Jeremy Branch Handschellen anzulegen.
„Wenn Sie weglaufen“, sagte Kate, „gehen wir davon aus, dass Sie etwas zu verbergen haben. Damit haben Sie uns auch soeben die Entscheidung abgenommen. Wir nehmen Sie mit auf die Wache.“
Darauf hatte Jeremy Branch nichts zu erwidern. Er keuchte hörbar, als DeMarco ihm mit den Händen auf dem Rücken gefesselt auf die Füße half. Als sie zum Wagen gingen, sah er verwirrt aus, als stehe er neben sich. Und als er nervös zurück zum Wohnwagen blickte, war Kate sich sicher, dass sie darin verdächtige Hinweise finden würden, die für Jeremy und seinen Bruder eine Menge Ärger bedeuten konnten, auch unabhängig von dem Mercy Fullers Verschwinden.
***
Die Suche im Haus dauerte nicht lang. Während DeMarco draußen blieb, untersuchte Kate die Räume und hatte innerhalb von fünfzehn Minuten mehr als genug gefunden, womit sich die Branch-Brüder eine Menge Ärger einhandelten.
In einem der Schlafzimmer wurden über zweihundert Gramm Kokain und ein halbes Dutzend Ecstasy-Pillen gefunden. Im anderen Schlafzimmer befanden sich mehrere kleine Tütchen mit Gras, ein weiteres Dutzend Ecstasy-Pillen, und einige Behälter mit verschreibungspflichtigen Schmerzmedikamenten. Der große Kick war, als Kate unter dem Bett des zweiten Schlafzimmers ein kleines schwarzes Notizbuch fand. Die Aufstellung darin gab an, wer wie viel Geld schuldete, und wofür.
Sie war der Meinung, dass das erste Schlafzimmer, das sie untersucht hatte, Jeremy Branchs war. Das hatte sie anhand des recht provokativen Bildes herausgefunden, das auf seinem Nachttisch stand. Darauf waren er selbst und eine fast unbekleidete Mercy Fuller zu sehen. Aber es gab keine Tagebücher, keinen Laptop, nichts, was darauf hinwies, dass er etwas mit ihrem Verschwinden oder dem Tod ihrer Eltern zu tun hatte.
Eine interessante Sache fand sie allerdings. Etwas, das zumindest eine Frage beantwortete. In dem kleinen Badezimmer, das von Jeremys Schlafzimmer abzweigte, fand sie eine Zahnpasta in Reisegröße, ein Deodorant für Frauen und eine kleine, neue Zahnbürste. Scheinbar hatte Mercy diese Dinge gekauft, um sie hierzulassen, um verbergen zu können, dass sie mit dem Jungen intim geworden war, bevor sie nach Hause ging.
Sie verließ das Haus und watete durch das hohe Gras zum Wagen. „Die ganzen Produkte in Reisegröße habe ich in Jeremys Badezimmer gefunden. Scheinbar hat Mercy sie hiergelassen.“
„Das ist … süß, sage ich mal.“
„Oder eher etwas besessen?“, schlug Kate vor. „Jetzt kennen wir jedenfalls den Grund dafür, warum er abgehauen ist.“
Vom Rücksitz erklang Jeremys verängstigte Stimme. „Das ganze Zeug gehört meinem Bruder.“
„Und er lagert es also in Ihrem Schlafzimmer?“
„Ja, er verkauft es und ... und…“
„Sparen Sie sich die Worte, bis wir auf der Wache sind“, sagte Kate. „Um ehrlich zu sein, sind die Drogen derzeit nur nebensächlicher Natur.“
„Ich habe nichts mit Mercy oder ihren Eltern zu tun, ich schwöre es.“
„Das hoffe ich doch“, sagte Kate, als sie losfuhr. „Aber wir werden wohl einfach abwarten müssen.“
KAPITEL FÜNF
Als sie diesmal die Polizeiwache in Deton betraten, war der große Empfangstresen am Eingang zum Großraumbüro von einer Frau besetzt, die aussah, als habe man sie irgendwann einmal dorthin gesetzt und seitdem dort sitzenlassen. Sie war locker um die sechzig Jahre alt und als sie zu Kate, DeMarco und Jeremy Branch aufblickte, setzte sie ein einstudiertes Lächeln auf. Als sie allerdings merkte, worum es ging, verflüchtigte sich das Lächeln und sie versuchte, professioneller zu wirken.
„Sie sind die Agents?“, fragte sie.
„Ja, Ma’am“, sagte DeMarco. „Können wir Mr. Branch hierlassen?“
„Im Vernehmungsraum. Ich benachrichtige den Sheriff und lasse ihn wissen, dass Sie hier sind. Bitte folgen Sie mir.“
Die ältere Frau führte sie am Großraumbüro vorbei und denselben Flur hinunter, den sie schon mit Barnes entlang gegangen waren. Sie öffnete die Tür zum zweiten Raum rechts. Er sah genauso aus wie der, in dem sie