lebte am Stadtrand und es dauerte eine Viertelstunde, in der Kate jede rote Ampel verfluchte, bis sie vor dem kleinen Reihenhaus einparkte. Mit einiger Ernüchterung stellte sie fest, dass alle Fenster dunkel waren. Sie klingelte, doch wie befürchtet, war Jill nicht zu Hause.
Auf dem Heimweg versuchte Kate sich damit abzufinden, dass sie ihre Sorgen heute nicht loswerden würde, doch sie wählte, sobald sie die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, die zuletzt im Protokoll gespeicherte Nummer noch einmal an. Vielleicht, so hoffte sie, hatte es lediglich einen Fehler beim Verbindungsaufbau gegeben.
»Jill ist noch nicht eingetroffen«, informierte sie dieselbe Männerstimme. »Ich kann mich bei Ihnen melden, sobald sie hier aufkreuzt.«
Kate plumpste in einen Sessel. »Ach, verflixt! Tut mir leid!«, sagte sie und klang dabei offenbar verzweifelter, als ihr bewusst war.
»Nicht so schlimm«, antwortete er und schien verunsichert, weil sie sich nicht gleich wieder verabschiedete. Dabei war sie mit dem Ohr zwar noch am Telefon, mit den Gedanken aber ganz woanders. »Also, falls ich sonst nichts für Sie tun kann …«
Seine vage Formulierung holte sie zurück in die Realität. »Nein, natürlich nicht … also dann …«
»Natürlich nicht?« Schon wieder klang er belustigt. »Wieso ist es so ausgeschlossen? Zumindest könnte ich mit Ihnen plaudern bis Jill da ist … bei einem von uns.«
Kate schluckte einen genervten Laut. »Das ist ein verlockendes Angebot, aber ich werde es ausschlagen müssen.«
»Warum, wenn es verlockend ist?«
»Weil ich zu tun habe. Und jetzt lege ich …«
»Zu tun zu haben scheint nicht gerade ein Vergnügen zu sein, dem man an einem Freitagabend nachgeht«, fiel er ihr ins Wort. »Sondern eher eine Verpflichtung.«
Nun klang er provokativ. Kate beschloss, ihm im gleichen Ton zu antworten.»Und Ihnen ist langweilig … an einem Freitagabend?«
»Absolut nicht. Ich unterhalte mich ganz ausgezeichnet.« Ihrem nächsten Einwurf vorbeugend, fuhr er fort: »Ich trinke Wein, höre Musik und überlege, ob ich in einen Club gehe oder den Abend so lasse, wie er ist.«
»Ah, ja. Na dann will ich Sie in Ruhe Wein trinken und überlegen lassen …«, versuchte sie ihn erneut abzuwimmeln.
»Meine Ruhe nehmen Sie mir absolut nicht. Im Gegenteil.«
»Aber wenn wir sprechen, können Sie die Musik nicht mehr hören.«
»Doch, die Musik sorgt für die perfekte Untermalung.«
Sie lauschte, konnte aber nichts hören. »Was für Musik ist es denn?« Im Stillen tippte sie auf Jazz, alternativ auf Chill-out.
»Zaz«, sagte er.
Das war eine Musikrichtung, von der sie noch nie gehört hatte. »Was ist das, Zaz?«
Er lachte. »Nicht das Zaz, die Zaz.«
»Die Zaz kenne ich genauso wenig.«
»Sie ist Französin.«
»Und sie singt französisch …«
»So ist es.«
»Französisch hatte ich ein Jahr lang in der High School«, erzählte Kate und zog die Füße unter den Po, um bequemer zu sitzen. »Davon ist wenig hängen geblieben. Ich würde kein Wort verstehen. Wovon singt sie?«
Er gab einen grüblerischen Laut von sich, schien zu überlegen, welche Zusammenfassung er ihr geben konnte. »Vom Leben, der Liebe, der Seele …«
Kate stutzte. Hatte er das wirklich gerade gesagt? Diese Worte benutzt, bei deren Klang eine Gänsehaut von ihrem Nacken bis zu den Fußsohlen krabbelte?
»Von Dingen, die wirklichen Wert haben«, fuhr er fort. »Von Momenten, an die man sich erinnern möchte und von Wünschen, die es sich zu wünschen lohnt.«
Sie wollte diese Musik hören, egal, ob sie den Text verstand oder nicht – doch sie vertrieb den Wunsch.
»Klingt toll«, entgegnete sie also und verlieh ihrer Stimme einen sachlichen Ton. Ihr Geist war damit nicht einverstanden und wollte sich fortträumen, zwang sie sogar, die Augen zu schließen. Ihr Verstand ermahnte sie jedoch, sie gleich wieder zu öffnen. Kate befolgte seinen Rat, straffte zudem die Schultern. »Und jetzt muss ich wirklich auflegen.«
Wie beim letzten Telefonat würgte sie ihn ab, indem sie die Verbindung unterbrach. Dann rollte sie sich auf der Couch zusammen, schob den Fremden aus ihren Gedanken, auch Henry – und Jill, die sich mal wieder herumtrieb –, und schlummerte ein.
***
Es dämmerte bereits, als sie aufwachte. Kurz streckte sie die vom Sessel gepeinigten Glieder und quälte sich in die Senkrechte. Dabei fiel ihr Handy auf den Boden. Auf dem Weg ins Bett überprüfte sie das Display und sah eine Nachricht.
Anspieltipp: Je veux von Zaz. Übersetzt heißt das: Ich will. Der Rest sei Ihrer Fantasie oder dem Wörterbuch überlassen.
Kapitel Zwei - Teil 1
Palo Alto lag am unteren Ende der San Francisco Bay im Silicon Valley. Zwölf Jahre zuvor war Kate vom benachbarten Bundesstaat Nevada hierhergekommen, um die Ausbildung zur Goldschmiedin bei einem Meister zu absolvieren, dessen Schmiede die beliebteste Adresse dieser Branche der Stadt und Umgebung war. Wenngleich er und Kate verschiedene Vorstellungen von Kunst in Gold hatten und er ihre Stücke oftmals als zu extravagant und untragbar beschrieb, ließ er ihr doch ihren Freiraum. Nach dem Ende ihrer Ausbildung bat er Kate zu bleiben und versprach ihr Unterstützung bei der Vorbereitung und Absolvierung ihrer Meisterprüfung. Seine Kinder lebten über die Staaten verstreut und hatten andere Ambitionen als das Geschäft des Vaters zu übernehmen, also stellte er es Kate in Aussicht. Zu einem Preis, der vielmehr ein Geschenk war, überließ er ihr das Haus in der Hamilton Avenue, dessen erste Etage eine Dreizimmerwohnung beherbergte. Das untere Geschoss teilten sich der Shop und die Werkstatt. Mit einem Zwinkern hatte er sich in sein Domizil am Meer verabschiedet. Er wollte nicht miterleben, wie Kate seinen Laden in ein, wie er sagte, Modern-Art-Museum verwandelte. Es war ein Spruch, den sie ihm nicht übel nahm, denn dass er ihr sein Lebenswerk überlassen hatte, war sowohl ein Kompliment als auch ein Zeugnis von Vertrauen.
Ohne ihn war es anfangs nicht leicht gewesen, und viele langjährige Kunden kamen nicht wieder. Beirren ließ sich Kate hiervon nicht, sondern machte weiter, wie es ihr gefiel. Gemäß dem Sprichwort, das besagte, dass man an sich selbst glauben musste, damit es auch andere taten, verwandelte sie ihr Edelmetall zu den Fabelwesen aus Henrys Wald, perfektionierte und individualisierte sie mehr mit jedem Jahr. Die Einnahmen ihres Ladenshops machten einen nur kleinen Anteil aus, wohingegen die Stücke, die sie über ihren Webshop verkaufte, bald ihr geregeltes Einkommen sicherten.
Was von den einen als überteuerter Kitsch bezeichnet wurde, wurde für mehr und mehr Liebhaber zum Must-have. Je freier Kate ihre Fantasie ließ, desto lauter wurde der Ruf nach noch mehr Verrücktheit, nach noch mehr Drama in Gold und Platin. So entstanden die Kollektionen der Crowned Lizards, der Sad Butterflies, der Hungry Lillies und viele mehr.
Im Sommer vor zwei Jahren hatte die Nachfrage so abrupt zugenommen, dass Kate ihr allein nicht mehr nachkam, zwei Goldschmiedinnen einstellte und die Werkstatt räumlich um das Doppelte erweiterte.
Neben Privatpersonen interessierten sich zudem mehr und mehr Juweliere in den kalifornischen Großstädten für ihre Arbeit. Dass sie ganze Kollektionen bei ihr in Auftrag gaben, um sie in ihren Geschäften anzubieten, sorgte dafür, dass man den Namen Kate Clark inzwischen über die Grenzen Kaliforniens hinaus mit ausgefallenem Designerschmuck verband.
***
Jill Grey war so etwas wie eine wandelnde Ausstellung von Kates Kunst. Für den Abend hatte sie die Flames angelegt – ein Set aus Ohrsteckern, Ring und Armreif, für das Kate Gold und Rotgold verwendet hatte und dessen Motiv, wie der Name vermuten ließ, eine züngelnde Flamme war. Der Schmuck passte perfekt zu Jills rotem Haar und dem Outfit, das wie so