Cord Buch

Die Welt im Viertel


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sollen mit Helium gefüllte Ballons den Flugverkehr lahmlegen und die Ankunft der Staatsgäste verhindern. Nele wird es heiß und kalt angesichts der beschriebenen Szenarien.

      »Kommt doch mal her«, ruft sie ihre Kollegen zu sich und zeigt auf ihre Sammlung von Vorberichten. Bernd und Max lassen ihre Blicke über Neles Sammlung schweifen.

      »Da wird jetzt schon ein Bürgerkriegsszenario zusammengeschrieben. Dabei ist der Gipfel erst in hundert Tagen«, entsetzt sich Bernd. Er hat in morgendlicher Eile einen ungebügelten Pullover von der Wäscheleine genommen, der schlabbrig über seine ausgefranste Jeans hängt. Obwohl er gerade erst vierzig geworden ist, eroberte das Grau unerbittlich seine Haare.

      »Und wir sind bisher ziemlich zurückhaltend, was den Gipfel anbelangt.«

      Max streicht sich nachdenklich über seinen Dreitagebart und Nele fragt sich, wie ein Mann einen Dreitagebart jeden Tag wie einen Dreitagebart aussehen lassen kann. Kürzt Max jeden Tag die Bartstoppeln um ein Viertel, damit aus einem Viertagebart wieder ein Dreitagebart wird? Noch nie hat sie sein Kinn ohne die Zier millimeterlanger Haare gesehen. Sie wendet ihre Gedanken wieder der Arbeit zu.

      »Wir müssen ab sofort mehr auf das Thema setzen, auf alternative Berichte. Nur trockene Demoaufrufe zu verbreiten bringt nichts. Ich habe gehört, dass eine Unmenge kleiner und fantasievoller Aktionen geplant ist, auch im Vorfeld. Aber«, Nele legt eine nachdenkliche Pause ein, »es geht nicht nur um Aktionen. Wir sollten das Thema öffentlich diskutieren.«

      »Was gibt es denn da zu diskutieren?«

      Bernd schaut Nele ungläubig an.

      »Manche sehen im Gipfel das Böse überhaupt, andere ärgern sich, dass er in unserer Stadt stattfinden soll. Aber viele finden es gut, dass die zwanzig mächtigsten Regierungschefs sich treffen. Diese Menschen sind nicht gegen das Treffen, sie sind gegen die Politik, die diese Staaten machen.«

      »Warum soll es gut sein, wenn die zwanzig sich treffen und neue Schweinereien aushecken?«

      »Wer redet, der schießt nicht. Das ist das Wichtigste überhaupt – Krieg zu verhindern.«

      Nele bringt die Männer zum Nachdenken, doch sie beschäftigt sich bereits mit den vor ihnen liegenden Aufgaben.

      »Ich schreibe ein Konzept, wie wir die Diskussion über G20 befördern können. Und ich fände es gut, wenn einer von uns am kommenden Wochenende zur Aktionskonferenz ins Millerntor-Stadion geht. Anschließend basteln wir uns einen Aktionskalender, den wir ständig aktualisieren.«

      »Schaut mal.« Bernd hält Nele und Max eine aufgeschlagene Zeitung hin. »Dieses Boulevardblatt hat einen Counter eingerichtet: Noch 100 Tage bis zum Gipfel. Die werden ab heute jeden Tag etwas bringen.«

      »Das werden wir auch. Aber ohne Zähler.«

      Die drei sind sich einig. Nele und Max wenden sich ihrem Arbeitsplatz zu, Bernd bleibt nachdenklich vor der Pinnwand stehen.

      »Meint ihr, es wird wirklich Tote geben?«, ruft er den beiden hinterher.

      Cairo hält Isa im rechten Arm. Ihr schwarzes Haar fällt auf ihre nackten Schultern. Es ist Sommer und der Asphalt der Straßen hat die Strahlen der Sonne in sich aufgesogen. Es ist angenehm, dort zu sitzen, wo sich zu Berufsverkehrszeiten endlose Blechlawinen stauen.

      Mit der linken Hand hält Cairo ein selbst gemaltes Schild in die Höhe: »Wenn ihr unser Viertel abriegelt, blockieren wir euren Gipfel!«

      Wütend zeigt Sven auf das Schild. »Und sie werden trotzdem das Viertel abriegeln. Ständig werden wir uns ausweisen müssen. Aber ob du durchkommst, das ist ungewiss. Und wenn deine Freunde in der Nähe der Messehallen wohnen, darfst du sie nicht besuchen.«

      »Wissen wir doch.«

      Cairo grinst und hofft, dass sich sein Freund bis zum Gipfel beruhigen wird. Ruhe behalten, das wird wichtig sein. Damit es jedem gelingt und niemand bei den kommenden Protesten zu Schaden kommt, haben sie sich in einer Bezugsgruppe zusammengeschlossen, üben sie das Blockieren, um während der Gipfeltage die Fahrten der Staatsgäste zu den Messehallen zu behindern. Sie, das sind Cairo und seine Freundin Isa, sein langjähriger Freund Sven, der leicht aufbrausende Hakim, der phlegmatisch wirkende Pawel und die ruhelose Petra.

      »Ist das nicht geil?«

      Isa lehnt sich an Cairo und schaut zu ihm auf. Selbst im Sitzen macht es sich bemerkbar, dass ihr Freund fast zwei Meter groß ist.

      »Was meinst du?«

      »Wie wir hier alle sitzen, ein kunterbunter Haufen und total gute Stimmung. Alle Altersklassen sind vertreten, und jeder redet mit jedem.«

      »Und vor allem: Rund um das Viertel ist der Verkehr zusammengebrochen.«

      Cairos Augen, die das Braun der Augen seiner Mutter geerbt haben, strahlen. Aus der Ferne wummern die Bässe der Musik herüber, die der Lautsprecherwagen der Blockierer in die Straßenschluchten schüttet.

      Die Polizei kündigte am gestrigen Tag auf einer Pressekonferenz eine Nulltoleranzstrategie an. Grund genug für Cairo, am Morgen eine Regenjacke einzupacken. Nicht, weil er der Sonne nicht traute, sondern um – wenn nötig – einen Schutz gegen das Nass der Wasserwerfer zu haben.

      Doch Cairos Jacke bleibt im Rucksack neben der Wasserflasche verstaut. Die Polizei hält sich auffallend zurück, nur wenige Beamte sind vor der Straßenblockade stationiert worden. Statt ihre Helme auf dem Kopf zu tragen, haben sie diese am Gürtel festgeschnallt.

      »Ich fühle mich wie auf einem riesigen Picknick. Oder wie auf einem Festival.«

      Isa ist in derselben freudigen Erregung wie ihr Freund.

      »Lieber tanz ich als G20!« Petra springt auf und bewegt sich zu dem Takt der herüberschallenden Musik.

      »Rocken wir den Gipfel platt!«, feuern Cairo und Isa sie an.

      »Letztes Jahr im November wollte ich glatt meine Monatskarte kündigen. Erinnert ihr euch an die Ankündigung, dass seit dem Frühjahr keine Haftbefehle wegen Schwarzfahrens oder nicht gezahlter Schulden mehr vollstreckt werden sollten, damit die Gefängnisplätze freigehalten werden für die Gipfeltage? Ich bin gespannt, was die vorhaben«, traut Hakim, der Älteste von ihnen, dem Frieden nicht.

      »Schwarzfahren kann teuer werden«, gibt Cairo, der nur halb zugehört hat, zu bedenken. Ob er dieses Wissen von den Plakaten der Hamburger Verkehrsbetriebe erworben oder diese Erfahrung selbst gemacht hat, verrät er nicht.

      »Einfach nicht erwischen lassen.«

      Isa scheint sich auszukennen.

      »Noch bedenklicher finde ich«, erinnert sich Hakim an nicht verdaute Pressemeldungen, »dass die Krankenhäuser seit Tagen keine Operationen mehr durchgeführt haben, damit in den nächsten Tagen ausreichend Betten frei sind. Auch das Personal wurde aufgestockt.«

      »Man kann echt Angst bekommen«, kommentiert Sven.

      Isa und Petra in ihrer Festivallaune sowie Cairo, Hakim, Pawel und Sven in ihrer Diskussion bemerken erst spät die Unruhe, die sich vor ihnen ausbreitet. Wasserwerfer sind aufgefahren, schicken blaugrauen Rauch aus ihren Auspuffrohren in den Himmel. Zwischen ihnen steht ein Lautsprecherwagen der Polizei, die Scheinwerfer auf seinem Lichtmast sind trotz der vom Himmel strahlenden Sonne eingeschaltet. Behelmte Einheiten der Bundespolizei lösen ihre Hamburger Kollegen ab und formieren sich vor der Blockade.

      »Scheiße, es geht los.«

      Cairo wühlt seine Regenjacke aus dem Rucksack, zieht sie sich an und die Kapuze über den Kopf. Eine Sonnenbrille hat er schon auf. Hakim und Sven tun es ihm gleich.

      »Jetzt gibt es eine Abkühlung. Gut bei der Hitze. Und, Jungs, macht kein Stress.«

      Petra tanzt unbeeindruckt weiter zur Musik. Isa schließt sich ihr an.

      »Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei. Räumen Sie die Straße. Sollten Sie dieser Aufforderung nicht