an, ohne dabei den Kopf zu heben. Tantchen sah nicht so aus, als sei sie erschrocken, sie wirkte vielmehr müde und ein wenig ratlos.
Wie viel Zeit ihr wohl noch blieb? Ein Jahr oder ein Monat oder vielleicht nur noch ein paar Tage? Was würde aus ihr, Dorothea, werden, wenn die Tante nicht mehr war? Hören Sie auf zu lügen, hatte Kirschbaum damals gesagt, als sie ihm von ihrem Doppelleben erzählt hatte. Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.
Vor sechs Monaten, als Hermann gestorben war, war es fast so weit gewesen. Ihre Eltern hatten Tobias zur Tante geschickt, um Dorothea nach Hause zu holen, aber natürlich hatte er nur die alte Walpurga angetroffen, die jedoch schlau gewesen war. Dorothea sei auf dem Markt, hatte sie angegeben, sie würde ihr schon Bescheid geben. Und dann war sie in die Bibliothek gekommen.
Vielleicht wäre es besser gewesen, man hätte ihr Geheimnis damals entdeckt. Dann wäre jetzt alles geklärt. Sie hätte ihre Arbeit bei Kirschbaum aufgegeben und Buße getan und alles wäre wieder gut.
»Ich bin so müde vom Seufzen; ich schwemme mein Bett die ganze Nacht und netze mit meinen Tränen mein Lager«, las ihr Vater.
Tantchen war immer sehr erleichtert, wenn Herr und Frau Leder sich wieder verabschiedeten. Dann ließ sie sich von Dorothea zu Bett bringen und schlief sofort ein, wie ein Säugling lag sie auf dem Rücken und schnarchte laut aus ihrem zahnlosen Mund.
Dorothea wusste genau, wie sie sich fühlte, ihr selbst ging es nicht anders. Sie war inzwischen ganz in das kleine Häuschen hinter der Gathe eingezogen, denn man konnte Tante Lioba nicht mehr allein lassen, jetzt da es so schlimm um sie stand. Seit Ende Juni lebte Dorothea schon hier und sie war noch nie in ihrem Leben so glücklich gewesen.
Morgens machte sie das Frühstück für sich und Lioba, die kaum noch etwas aß, und dann kam Walpurga und Dorothea ging ins Luisenviertel und abends hatte sie das kleine Haus ganz für sich allein, denn Tante Lioba ging früh schlafen. Sie schlief so viel in diesen Tagen und Dorothea las und las und las. Natürlich hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie dieses Glück allein Liobas Elend zu verdanken hatte, aber ein schlechtes Gewissen war für sie in den letzen Monaten zur Normalität geworden, daran hatte sie sich gewöhnt.
Jetzt räumte sie auf und bereitete das Mittagessen vor und dann setzte sie sich mit einem Buch in den Lehnstuhl ans Fenster. Draußen auf der Straße spielten ein paar Kinder in der flirrenden Hitze, sie musste an Hermann denken, als sie sie sah, und wurde traurig.
»Wenn du möchtest«, hatte ihre Mutter gesagt, als sie sich vorhin verabschiedet hatte, »kann ich heute Nachmittag ein bisschen bei Tantchen sitzen, von vier Uhr bis zur Andacht um sechs. Dann kannst du ein paar Schritte tun, du kommst ja gar nicht mehr aus dem Haus.«
Ihre Eltern und die ganze Gemeinde betrachteten Dorotheas aufopfernde Fürsorge mit größtem Wohlwollen, Dorothea hatte selbst einmal gehört, wie einer der Ältesten sie einem jungen Mädchen als Vorbild hinstellte. Sie, Dorothea, die Lügnerin, die Betrügerin. Wenn ihr wüsstet, hatte sie gedacht, und dann wieder an Kirschbaums Worte. Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.
Sie würde Rosalie besuchen, solange ihre Mutter auf Tante Lioba aufpasste. Früher hatten sie ihre Sonntagnachmittage immer gemeinsam verbracht. Damals hatten sie sich auch jeden Morgen an der Pumpe auf dem Königsplatz getroffen. Inzwischen sahen sie sich kaum noch. Hier oben in der Nordstadt bei Tante Lioba hatte Rosalie sie noch kein einziges Mal besucht und auch Dorothea war monatelang nicht mehr bei Rosalie gewesen.
Als sie sich auf den Weg machte, war es nicht mehr so heiß, dennoch war sie schon nach wenigen Schritten nass geschwitzt. In der Laurentiusstraße dauerte es lange, bis jemand öffnete. Als Dr. Kuhn vor ihr stand und sie aus großen verschwommenen Brillenaugen musterte, wusste Dorothea, dass Rosalie nicht zu Hause war.
»Sie ist ... spazieren«, erklärte Kuhn.
»Spazieren?«, fragte Dorothea. »Ganz allein? Wie lange ist sie denn schon weg? Und wo ist sie hin?« Vielleicht konnte sie sie ja noch einholen.
»Eine Weile schon«, sagte Kuhn vage. Auf die anderen beiden Fragen antwortete er gar nicht, er sah Dorothea nur ratlos an. Ganz offensichtlich wurde ihm erst jetzt bewusst, dass er keine Ahnung hatte, wo seine Tochter steckte.
»Schade«, sagte Dorothea. »Nun, wenn sie zurückkommt, richten Sie ihr doch bitte aus, dass ich hier gewesen bin.«
»Dorothea«, fügte sie schnell hinzu, als sie bemerkte, wie sich seine blauen Augen zusammenzogen.
»Dorothea«, nickte Kuhn. »Natürlich.«
Auf dem Weg nach Hause ging sie über den Heckweiher, an der Apotheke waren die Gitter vor den Fenstern zugezogen und mit großen schmiedeeisernen Schlössern gesichert. Sie dachte an die Botschaft des Apothekers, die sie Rosalie nie ausgerichtet hatte. Ob Rosalie jemals davon erfahren hatte?
Wo mochte sie sein? Früher wäre es undenkbar gewesen, dass eine von ihnen nicht wusste, was die andere tat. Früher hatten sie einander verstanden, sie hatten sich vertraut, bei aller Gegensätzlichkeit. Aber jetzt hatten sie sich auseinandergelebt.
Vom Neumarkt aus bog sie in die Friedrichstraße ein. Die Häuser waren mit dunklem Schiefer verkleidet, die Fassaden grau und schuppig wie die Haut alter Echsen. Fensterscheiben glitzerten im Sonnenlicht wie Augen.
Dorothea versuchte sich zu erinnern, wann ihre Entfremdung begonnen hatte. Mit ihrer Arbeit bei Kirschbaum. Aber eigentlich schon früher. Es waren die Knochen aus dem Neandertal. Damit hatte es angefangen.
Am nächsten Morgen kam Rosalie in die Bibliothek, Kirschbaum brachte sie zu Dorothea ins Hinterzimmer.
»Du warst gestern bei mir«, sagte Rosalie. »Ist etwas passiert?«
»Ich hatte ein wenig Zeit und wollte mit dir spazieren gehen. Aber du warst nicht da.«
»Ich war auf dem Nützenberg. Mit Karl Bomann und Elisabeth Kraus und noch einigen mehr, wir haben ein Picknick gemacht bei dem schönen Wetter.«
Rosalie traf sich manchmal mit den jungen Leuten aus dem Viertel, sie fuhren zusammen aufs Land und wanderten oder gingen zum Tanzen. Dorothea war niemals dabei, ihre Eltern hätten es nicht erlaubt, und sie machte sich auch nichts daraus.
Es hätte also stimmen können, aber es war nicht wahr. Dorothea war inzwischen so geübt im Lügen, dass man ihr nichts mehr vormachen konnte, sie merkte es sofort, wenn jemand nicht die Wahrheit sagte. Rosalie log sie an, die Erkenntnis machte Dorothea so schwindlig, dass sie nach der Tischkante griff, um sich daran festzuhalten. Rosalie, die Aufrichtige, die Kompromisslose, die Ehrliche. Die Einzige, die über Dorotheas Doppelleben Bescheid wusste, Kirschbaum einmal ausgenommen. So weit hatten sie sich also voneinander entfernt. Das war aus ihrer Freundschaft geworden.
Dorothea nahm ein Buch von dem Stapel auf ihrem Schreibtisch und starrte hinein, um Rosalie nicht ansehen zu müssen. »War es schön?«, fragte sie. Ihre Stimme klang ein bisschen dünn.
Rosalie schwieg, vielleicht nickte sie, aber da Dorothea nicht von ihrem Buch aufblickte, konnte sie es nicht sehen. »Wie geht es Tante Lioba?«, hörte sie Rosalie fragen. »Du bist jetzt ganz zu ihr gezogen, steht es sehr schlimm um sie?«
»Schlecht.«
»Du meine Güte«, murmelte Rosalie, und dann schwiegen sie beide. Dorothea klappte ihr Buch wieder zu und legte es zur Seite, dann starrte sie auf den Stapel Bücher zu ihrer Linken, die alle noch aufgeschnitten werden mussten, bevor sie Karteikarten dafür schreiben konnte. Plötzlich wünschte sie sich, dass Rosalie endlich ginge, sie hatte noch so viel zu tun, und statt zu arbeiten saß sie hier herum und redete dummes Zeug und wurde angelogen.
Aber dann sah sie Rosalie an und sah, dass ihre Augen ganz feucht waren.
»Ich war gar nicht mit Karl und Elisabeth auf dem Nützenberg«, flüsterte sie. »Sondern mit jemand anderem.«
»Ich weiß.« Dorothea hatte jetzt selbst Tränen in den Augen, obwohl es gar keinen Grund dafür gab. Rosalie hatte sich mit dem Apotheker getroffen. Obwohl Dorothea seine Nachricht nicht ausgerichtet hatte, waren die beiden doch zusammengekommen, und nun trafen