Nadine Erdmann

Die Totenbändiger - Band 6: Unheilige Nacht


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Arme waren nach hinten verdreht. Wieder fuhr ein brennender Schmerz durch seine Handgelenke, als irgendwas in seine Haut schnitt.

      »Seine Hände sind auch verschnürt. Seid ihr sicher, dass er so noch kämpfen kann? Wäre schließlich echt blöd, wenn wir den ganzen Aufwand hier umsonst betreiben und nichts Spektakuläres zu sehen bekommen.«

      Der Nebel in seinem Kopf war noch immer so verdammt zäh, dass es ewig dauerte, bis seine Erinnerungen sich hindurchgekämpft hatten.

      Die Bushaltestelle.

      Topher und Emmett, die wollten, dass er zu ihnen in den Wagen stieg.

      Jemand, der ihn von hinten gepackt und betäubt hatte, als er sich weigerte, der Anweisung nachzukommen.

      Sein Herz stolperte, doch die Benommenheit in seinem Kopf sorgte dafür, dass seine Panik sich in Grenzen hielt. Er fühlte sich müde und völlig erschlagen. Schaffte es nicht mal, seine Augen aufzuzwingen, und jeder Gedanke war träge und entsetzlich langsam.

      Aber das alles hier bedeutete nichts Gutes.

      Er wollte sich bewegen … doch er konnte nicht. Sein Körper schien tonnenschwer und reagierte noch unwilliger als seine vernebelten Gedanken.

      »Das kriegt er schon hin. Jaz konnte ihr Silberzeug lenken und überall hinschicken, dann wird der Freak das ja wohl auch hinbekommen. Ist die Kamera bereit?«

      »Yep. Wir können sie jederzeit starten.«

      »Perfekt. Dann lasst uns von hier verschwinden. Die Party steigt zwar nicht ohne uns, aber wir wollen ja niemanden warten lassen.«

      »Und was machen wir mit ihm? Was, wenn er nicht rechtzeitig aufwacht?«

      »Keine Sorge. Der wacht schon auf.«

      Etwas Eisiges klatschte in sein Gesicht und Cam keuchte auf.

      Gelächter erklang.

      »Seht ihr. Das wird schon.«

      Jemand packte grob in seine Haare, riss seinen Kopf zurück und verpasste ihm eine Ohrfeige.

      »Hörst du mich, Freak? Zeit, aufzuwachen, sonst verpasst du die Geisterstunde.«

      Wieder klatschte kaltes Wasser in sein Gesicht. Cam schnappte erschrocken nach Luft und versuchte die Augen zu öffnen, doch seine Lider waren einfach zu schwer.

      »Okay, er kommt zu sich. Verschwinden wir besser, bevor er wach genug wird, um dieses Silberzeug auf uns zu hetzen.«

      Eine zweite Ohrfeige traf ihn.

      »Mach’s gut, Missgeburt. Und wehe, du sorgst für kein geiles Entertainmentprogramm!«

      Die Hand riss noch einmal an seinen Haaren, dann ließ sie ihn los. Die Stimmen lachten höhnisch und Schritte entfernten sich raschelnd.

      Dann war es still.

      Cam spürte seinen Herzschlag in seiner Brust. Die Schmerzen der Ohrfeigen und das Reißen an seinen Haaren hatte den Nebel in seinem Kopf weiter vertrieben, trotzdem schien sein Körper ihm immer noch nur äußerst widerwillig zu gehorchen.

      Doch er musste!

      Verdammt, er brauchte die Kontrolle zurück!

      Er musste wissen, wo er war und was die Dreckskerle mit ihm gemacht hatten!

      Mit unendlich viel Anstrengung mühte er seine Augen auf – und wünschte sofort, er hätte sie geschlossen gehalten. Abartige Kopfschmerzen fuhren wie ein glühender Pfeil durch seinen Schädel und schienen ihn spalten zu wollen. Cam stöhnte auf. Tränen schossen in seine Augen und ihm wurde übel. Mühsam atmete er durch und blinzelte ein paar Mal.

      Um ihn herum herrschte seltsames Zwielicht.

      Wieder musste er blinzeln, bis die Tränen endlich nicht mehr seine Sicht verschleierten. Dann erkannte er vor sich einen langgezogenen steinernen Tisch mit ebensolchen Stühlen. Einem Festbankett gleich standen darauf Teller und Gläser, Karaffen und Schüsseln, Servierplatten und Körbe. Die Schüsseln enthielten Gemüse, in den Körben befand sich hübsch drapiertes Obst und auf den Platten lagen ein dekoriertes Spanferkel, ein gefüllter Truthahn und verschiedene Fischsorten. Alles war aus Stein und an vielen Stellen mit Moos überzogen, sodass die Konturen verschwammen und die einst so detailliert ausgearbeiteten Köstlichkeiten jetzt wie verdorben und mit Schimmel befallen wirkten. Unkraut wucherte zwischen den Stühlen empor bis an die Tischkante und vom Wald her hatten sich Büsche und Gestrüpp auf der Lichtung ausgebreitet. Das Kunstwerk der steinernen Festtafel bildete ihr Zentrum. Drumherum standen kreisförmig am Waldrand weitere Steintische mit Steinbänken. Diese waren jedoch leer und hatten einst als Picknicktische gedient.

      Cams Herz stolperte.

      Er kannte diesen Ort.

      Jeder in Nordlondon kannte ihn.

      Im vorigen Jahrhundert war diese Lichtung mit ihren hübschen Steinmetzarbeiten ein beliebtes Ausflugsziel für Wochenendpicknicke mit der ganzen Familie gewesen – bis hier in den fünfziger Jahren ein Massenselbstmord stattgefunden hatte und der Ort seitdem Nacht für Nacht von den Geistern der Toten heimgesucht wurde.

      19:43 Uhr

      Jaz stand auf der Terrasse und blickte hinauf in den trüben Wolkenhimmel. Nieselregen fiel herab und sie schloss die Augen. Gabriel, Sky und Connor waren gerade mit Thad, Sue und Phil losgefahren, um sich Topher vorzuknöpfen und Cam zurückzuholen. Die Wut auf diesen Dreckskerl und seine beschissenen Freunde rang in Jaz’ Innerem mit Erleichterung, für die sie sich abgrundtief schämte.

      Shit. Shit. Shit.

      Ein kalter Windzug drang durch ihren Hoodie. Frierend zog sie die Schultern hoch, grub ihre Hände in die Taschen des Pullovers und fühlte sich noch elender als zuvor.

      Hinter ihr ging die Terrassentür auf und auch ohne sich umzudrehen wusste sie, dass Ella aus dem Wohnzimmer zu ihr kam.

      »Hey, was machst du hier draußen? Es ist nass und affenkalt.« Ella schlang ihren Arm um Jaz, ließ ihre Hand in die Tasche des Hoodies gleiten und verschränkte ihre Finger miteinander. »Ist alles okay?«

      Jaz schluckte hart und schwieg.

      »Gabe, Sky und Connor kriegen das schon hin. Und Thad kann als Polizist echt furchteinflößend sein. Gegen sie haben Topher und Emmett keine Chance und die beiden werden mit Sicherheit ganz schnell sagen, wo Cam ist.« Ella schmiegte sich an sie. »Und wenn diese Mistkerle ihm irgendwas getan haben, wird Dad ihm helfen. Er hat ja auch Gabriel wieder zusammengeflickt und die Klauenhiebe sahen echt übel aus.«

      Obwohl ihr eigentlich gar nicht danach zumute war, musste Jaz lächeln. Als Cam zum Abendessen nicht nach Hause gekommen war und niemand ihn erreichen konnte, war Ella vor Sorge völlig hibbelig gewesen. Doch kaum, dass festgestanden hatte, was passiert war, und ihre Eltern gemeinsam mit den Spuks losgezogen waren, um Cam zurückzuholen, war sie wieder der optimistische Sonnenschein, der voll und ganz auf seine Familie vertraute und schon jetzt zu wissen schien, dass alles gutausgehen würde.

      Dafür musste man sie einfach lieben, oder nicht?

      Die Gefühle, die Jaz bei der ganzen Sache gerade hegte, würden bei anderen dagegen vermutlich eher Stirnrunzeln hervorrufen – wenn nicht gar Schlimmeres.

      Da Ella merkte, dass irgendwas nicht stimmte, trat sie vor Jaz, um ihr in die Augen sehen zu können. »Hey, was ist los?« Sie musterte sie durchdringend, ohne Jaz’ Hand loszulassen. »Warum bist du so … traurig?«

      Da Jaz Ellas Blick nicht aushielt, schloss sie kurz die Augen und wich ihr dann aus. »Weil ich ein echt mieser Mensch bin«, antwortete sie leise.

      Sie wollte ihre Hand aus Ellas ziehen, doch die ließ sie nicht gehen und schaute