Thomas Tippner

Du hast mich nie gewollt - Liebesroman


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      Das da, was da vor ihm lag, konnte er nicht wegwerfen. Dafür gab es kein routiniertes Manöver, keine einstudierte Wurftechnik, die das Papierknäuel sicher in den Abfall beförderte.

      Der Brief war anders.

      Er war gestern Abend in Nancys Händen gewesen, und er war es auch heute Morgen, als sie bezaubernd aussehend auf der Couch saß und das auseinandergefaltete Stück Papier aufmerksam las, während ihre Lippen jedes einzelne Wort zu buchstabieren schienen.

      Sebastian hatte seit der achten Klasse zu so gut wie gar nichts mehr eine Beziehung aufgebaut.

      Weder zu seinem Haus, das für ihn nichts weiter war als ein Prestigeobjekt, noch zu seinen BMW oder zu dem Porsche, die beide in der Garage standen. Sie waren dafür da, um kurz im aufflackernden Lichtkegel der Garage aufzutauchen und bestaunt zu werden.

      Ein weiterer Beweis seines Erfolges.

      Ein Beweis dafür, was er erreicht und geschafft hatte.

      Dinge waren dafür da, um besessen zu werden. Gegenstände waren dafür da, dass man sie benutzte. Reichtum war für jene bestimmt, die wussten, wie man ihn mehrte.

      Selbst die im Aquarium schwimmenden Fische waren als Blickfang gedacht. Als kurze Impression seiner inneren Ruhe, um zu zeigen, wie liebevoll er war.

      In Wirklichkeit war das blöde Ding nicht mehr und nicht weniger als ein Raumteiler, der dazu diente, die geräumige und nie benutzte Küche vom Wohnzimmer zu trennen.

      Die Fische waren teuer gewesen, das Aquarium sah stylish aus, und der Innenausstatter war so begeistert von seiner Arbeit, dass Sebastian ihm bereitwillig zugestand, eine kleine Klippenlandschaft in das riesige Wasserbecken zu bauen.

      Wenn es geil aussah, war es gerade gut genug für ihn.

      Aber der Brief … der hatte eine eigene, fremde Dynamik angenommen, die er nicht begreifen konnte.

      Sebastian erinnerte sich, wie er ihn damals aus der Post gezogen hatte. Er wäre beinahe achtlos mit den anderen Postwerfsendungen in den Papiermüll gewandert. Aber als wäre der Brief dazu bestimmt gewesen, seinem Empfänger ausgehändigt zu werden, hatte er zwischen den ganzen anderen Umschlägen herausgeragt.

      Die abgeknickte, obere linke Ecke hatte wie ein kleiner Haken gewirkt, der verhinderte, dass der Brief unter die anderen rutschen konnte. Und so hatte er ihn schließlich hervorgezogen und die jugendliche, geschwungene Handschrift darauf gesehen, die den Brief an ihn adressiert hatte. Eine Handschrift, die er noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte.

      Bewerbungen, die er damals in der Personalabteilung bei Lother & Gabriel Investment Company gelesen hatte, als er seinen ersten Schritt auf der Karriereleiter gemacht hatte, waren allesamt maschinell erstellt worden. Nur die Unterschriften hatten allesamt ähnlich ausgehen wie die feinsäuberlich auf den Umschlag prangenden Buchstaben.

      Es hatte ihn verwirrt, einen solchen Brief überhaupt zu bekommen. Noch dazu in so einem kitschigen und lächerlich wirkenden Briefumschlag.

      Noch nie hatte er sich etwas aus Naturszenen gemacht. Er fand nichts langweiliger als einen Blick auf eine sich vor ihm ausbreitende und bis zum Horizont erstreckende Wiese. Allein schon der Gedanke daran, dass er über eine solche gehen sollte, ließ ein Gähnen in ihm aufsteigen.

      Der Umschlag zeigte ihm genau das.

      Eine im Sonnenlicht liegende Wiese, die auf einen sich als angedeutete Silhouette abzeichnenden Wald zulief. Am linken Rand sah man noch die wallende, vom Wind verwehte Mähne eines Pferdes.

      Ein Fuchs, wenn er sich recht erinnerte, da die Mähne, der Körper wie auch der Schweif des Tieres ganz braun waren. Ein bildschönes und in all seiner Eleganz eingefangenes Tier. Man erkannte die Kraft, den Willen und die ungebremste Gier nach Leben, wenn man in das Gesicht des Tieres schaute.

      Schade war nur, dass so ein Pferd dafür herhalten musste, auf einen Briefumschlag gebannt zu werden, enthaltenen Briefe ansehen konnte. Ein Kummer, der nur von vierzehnjährigen naiven Mädchen geschrieben werden konnte und so albern und aufgesetzt klang, dass es einen unwillkürlich dazu verleitete, die Augen zu verdrehen.

      Himmel, der Briefumschlag war so kitschig, dass er nicht einen müden Cent für ihn ausgegeben hätte.

      Was ihm als Nächstes aufgefallen war, als er den Umschlag aufriss, war das billige, nach penetranten Rosen riechende rosa Papier gewesen, und … weiter war er nicht gekommen.

      Warum auch immer, irgendetwas hatte ihn daran gehindert, den Brief aus dem Umschlag zu nehmen und ihn zu lesen. Etwas, das ihm Magenschmerzen bereitete und seine spöttischen Gedanken negativ werden zu lassen drohte.

      Solch einen Abfall seiner inneren Zufriedenheit hatte er noch nicht erlebt. Niemals.

      Er war immer auf einer Welle der Euphorie und der ausgelassenen Selbstverliebtheit geschwommen. Es hatte für ihn keine andere Möglichkeit gegeben, als sich selbst zu lieben. Ob es seinen Mitmenschen gefiel oder nicht.

      Der Brief hatte das geschafft, was er für unmöglich gehalten hatte.

      Er musste seufzen, wenn er nur an das in ihm aufsteigende Gefühl der Unsicherheit dachte. Eine Unsicherheit, wie er sie nur einmal in sich hatte spüren müssen. Und das lag schon so lange zurück, dass er meinte, es gar nicht erlebt zu haben.

      Es ist gar nicht echt, dachte er und blinzelte, als er begriff, dass die auf der Couch sitzende Nancy gerade damit begonnen hatte, in seinem Brief zu lesen, oder habe ich tatsächlich einmal zitternd und von Selbstzweifeln geplagt vor meinem Abteilungsleiter gestanden und Angst davor gehabt, meinen ersten Ausbildungstag in der Lother & Gabriel Investment Company zu beginnen?

      Das Gefühl gab es nie wieder.

      Und doch war es da.

      Es hatte in ihm geruht und geschlummert, still und heimlich darauf gewartet, um sein explodierendes und überschäumendes Selbstbewusstsein in die Schranken zu weisen.

      Seine Unsicherheit war vergessen – wie er angenommen hatte -, genauso wie die vielen Frauen, mit denen er im Bett gewesen war. Es hatte gar nicht mehr in ihm existiert und war jetzt plötzlich mit so einer Wucht zu ihm zurückgeschleudert worden, dass es ihn beinahe von den Füßen riss.

      Und jetzt las Nancy auch noch in dem Brief.

      Scheiße, Mann, sie saß einfach da auf der Couch, mit ihren langen Beinen, ihrem blonden Wuschelkopf, den sich bewegenden Lippen, wenn sie die Buchstaben aneinanderreihte, und las den verschissenen Brief.

      Seinen Brief!

      „Was machst du da?“, fragte er kurz angebunden und griff, als er nahe genug an sie herangetreten war, nach dem Brief.

      „Der ist ja toll“, sagte Nancy, machte aber keinerlei Anstalten, das handschriftlich beschriebene Stück Papier festzuhalten.

      „Das geht dich aber nichts an.“

      „Voll schön geschrieben. Wer ist sie?“

      „Pack deine Sachen“, sagte er kalt und war froh, dass er seine Bürostimme wiedergefunden hatte.

      „Wir wollten doch noch zum Strand!“, hielt sie ihm wie ein Kleinkind vor, das nicht verstehen wollte, dass es eine plötzliche Planänderung im Tagesablauf gegeben hatte. „Das hast du mir versprochen. Und was man versprochen hat, das bricht man nicht.“

      „Ich bezahl dir auch das Taxi!“

      „Ich soll wirklich gehen?“, fragte Nancy verwundert und schob die Unterlippe vor, in der Absicht, niedlich wirken zu wollen.

      „Da ist die Tür.“

      „Rufst du mich denn an?“

      „Vielleicht.“

      „Der Brief lag da einfach so herum, und ich dachte mir …“

      „Ich ruf dir das Taxi schon!“, unterbrach er sie, weil er es nicht ertragen konnte, sie so dasitzen zu sehen. Er begriff, dass ihre Dummheit, wie er es abfällig nannte, es geschafft