darf ich Ihnen einen Rat geben?« Er wartete Dr. Daniels Antwort gar nicht erst ab. »Lassen Sie Ihre Praxis heute zu, und legen Sie sich ein paar Stunden ins Bett. Sie hätten den Schlaf dringend nötig.«
»Danke für den Rat, Gerrit, aber ich kann die Praxis nicht einfach zusperren. Es geht nicht…«
»Wenn Sie zusammenbrechen, dann wird es auch gehen müssen«, fiel Dr. Scheibler ihm ins Wort.
»Sie verstehen es ausgezeichnet, mich aufzumuntern«, erklärte Dr. Daniel mit offenem Sarkasmus.
Doch Dr. Scheibler blieb ernst. »Ich will Sie gar nicht aufmuntern, Robert, sondern Ihnen klarmachen, was passieren wird, wenn Sie mit Ihren Kräften weiterhin solchen Raubbau treiben. Sie waren gestern bis neun Uhr abends hier in der Klinik. Von dem ganzen Streß, den Sie tagsüber hatten, will ich gar nicht reden. Und nach allem, was ich weiß, waren Sie zum Zeitpunkt dieses schlimmen Verkehrsunfalls ebenfalls auf der Straße, und das war bereits gegen Mitternacht. Anschließend haben Sie dann sechs Stunden im OP gestanden – wobei die Nervenbelastung gerade in diesem Fall nicht zu unterschätzen ist. Ich will ehrlich sein, so etwas würde auch mich an den Rand meiner Leistungsfähigkeit bringen, und ich bin immerhin zwölf Jahre jünger als Sie.«
»Danke für den Hinweis auf mein Alter«, entgegnete Dr. Daniel etwas heftiger, als es seine Absicht gewesen war. »Dazu kann ich Ihnen aber sagen, daß ich mich mit meinen einundfünfzig Jahren durchaus noch nicht wie ein Tattergreis fühle.«
»Robert, warum kann ich mich Ihnen denn nicht verständlich machen? Ich mache mir doch lediglich Sorgen um Sie.«
»Das ehrt Sie, aber es ist völlig unnötig. Ich weiß schon, was ich aushalten kann.«
Danach nickte Dr. Daniel dem Oberarzt verabschiedend zu und verließ die Klinik. Besorgt sah Dr. Scheibler ihm nach.
»Warum will denn keiner auf mich hören«, murmelte er kopfschüttelnd, bevor auch er wieder an die Arbeit ging.
*
Wie recht Dr. Scheibler mit seinem Rat gehabt hatte, merkte Dr. Daniel noch am selben Vormittag. Er fühlte sich nach der durchwachten Nacht wie gerädert, und überdies schien die Patientenflut heute kein Ende nehmen zu wollen. Dazu kam, daß Dr. Daniels Gedanken immer wieder zu Claire Buschmann wanderten.Warum meinte es das Schicksal nur so schrecklich mit dem armen Mädchen?
Dann hatte sich die letzte Patientin endlich verabschiedet, und Dr. Daniel wußte, daß er jetzt aufstehen und zur Waldsee-Klinik fahren mußte, doch er war zu keiner Bewegung fähig.
Nur für einen Moment, dachte er und schloß die Augen. Er wollte gar nicht einschlafen, doch die Müdigkeit war stärker als er. Als seine junge Sprechstundenhilfe Sarina von Gehrau ihn wenig später so fand, verließ sie das Zimmer ganz besonders leise und schloß lautlos die Tür hinter sich.
»Was ist denn los?« wollte die Empfangsdame Gabi Meindl wissen.
»Er ist fix und fertig«, antwortete Sarina voller Mitleid. »Stellen Sie sich vor, Gabi, jetzt sitzt er an seinem Schreibtisch und schläft.«
Fassungslos schüttelte die junge Empfangsdame den Kopf. »Irgendwann arbeitet er sich wirklich noch mal zu Tode. Ich möchte bloß wissen, was diesmal wieder los war. Er hat ja schon so müde ausgesehen, als er in die Praxis gekommen ist.«
Sarina nickte. »Außerdem kam er heute früh nicht aus der Wohnung, sondern von draußen.« Sie seufzte. »Wahrscheinlich hat er die halbe Nacht in der Waldsee-Klinik gearbeitet.«
»Ich frage mich, wofür die eigentlich eine Gynäkologin haben, wenn bei Entbindungen doch immer wieder der Chef einspringen muß«, meinte Gabi und zeigte ihre Empörung über die Waldsee-Klinik dabei ganz deutlich. »Also allmählich…«
Es gelang Gabi nicht mehr, den Satz zu beenden, denn in diesem Moment klingelte das Telefon.
»Ich habe den Anrufbeantworter ja gar nicht eingeschaltet«, erkannte Gabi ärgerlich, dann hob sie mit einem tiefen Seufzer den Hörer ab. »Praxis Dr. Daniel, gu-ten Tag.«
»Scheibler, Waldsee-Klinik«, gab sich der Oberarzt am anderen Ende der Leitung zu erkennen. »Ist Dr. Daniel noch in der Praxis?«
»Ja, schon«, antwortete Gabi gedehnt, überlegte, ob sie die Wahrheit sagen sollte, und entschied sich schließlich dafür. Der Oberarzt war ihr sehr sympathisch, und sie hatte schon mehrmals gemerkt, daß man mit ihm gut reden konnte. »Er sitzt in seinem Büro und schläft.«
Dr. Scheibler stöhnte vernehmlich. »Er hat also nicht auf mich gehört, dabei hatte ich ihm dringend geraten, die Praxis heute vormittag geschlossen zu halten.« Er überlegte einen Moment. »Lassen Sie ihn schlafen, Fräulein Meindl, und schicken Sie ihn erst zu mir, wenn er von selbst aufwacht. Nach der vergangenen Nacht hat er den Schlaf nämlich bitter nötig.«
»Ist recht, Herr Dr. Scheibler«, meinte Gabi, verabschiedete sich und legte auf. Dann wandte sie sich Sarina zu. »Das ist wenigstens noch ein Mensch – so nett und verständnisvoll. Er hat gesagt, wir sollen den Chef besser schlafen lassen.«
»Das hätte ich sowieso getan«, erklärte Sarina entschieden. »Wenn Dr. Daniel bereits im Sitzen einschläft, muß er wirklich völlig erschöpft sein, und ihn dann aufzuwecken, wäre fast ein Verbrechen.«
*
Am späten Vormittag war Claire Buschmann zum ersten Mal aufgewacht.
»Mama«, wollte sie rufen, doch es wurde nur ein heiseres Flüstern.
Im nächsten Moment beugte sich eine hübsche schwarzhaarige Krankenschwester über sie und lächelte sie freundlich an.
»Hallo, Claire, ich bin Schwester Alexandra«, stellte sie sich vor.
»Mama«, flüsterte Claire. »Wo ist meine Mama?«
Sehr behutsam streichelte Alexandra über das schmale blasse Gesichtchen der jungen Patientin.
»Später, Claire«, meinte sie nur. »Ich hole jetzt erst mal Dr. Scheibler.«
Die Krankenschwester verließ eiligst die Intensivstation und machte sich auf die Suche nach dem Oberarzt. Sie fand ihn im Ärztezimmer der Chirurgie zusammen mit dem Assistenzarzt Dr. Stefan Daniel und dem Anästhesisten Dr. Parker.
»Die kleine Claire ist aufgewacht«, erklärte Alexandra. »Sie fragt nach ihrer Mutter.«
Die Ärzte tauschten einen kurzen Blick, dann stand Dr. Scheibler auf und folgte der Schwester zur Intensivstation.
»Hallo, Claire«, begrüßte auch er das Mädchen. »Ich bin Dr. Scheibler, aber du kannst mich auch einfach Gerrit nennen, einverstanden?«
Aus großen blauen Augen sah Claire den ausgesprochen gutaussehenden Arzt an.
»Wo ist meine Mama?« wollte sie wissen. »Und mein Papa?«
Dr. Scheibler überging die Frage vorsichtshalber. »Hast du Schmerzen, Claire?«
»Ja«, flüsterte sie. »Mein Kopf tut weh… und mein Bauch.«
Dr. Scheibler fühlte ihren Puls und kontrollierte die Temperatur, die im Augenblick ein bißchen erhöht war, aber das konnte auch eine ganz normale Reaktion auf den Unfall und die nachfolgende lange Operation sein.
»Weißt du, Kleines, du hast einen sehr schweren Eingriff hinter dir«, erklärte Dr. Scheibler. »Ich fürchte also, daß dir dein Kopf noch länger weh tun wird. Allerdings mußt du das nicht aushalten. Schwester Alexandra wird dir nachher ein Zäpfchen geben, das die Schmerzen wegnehmen wird.«
»Ja«, flüsterte Claire und hatte dabei Mühe, die Augen offenzuhalten. Die Nachwirkungen der Narkose machten sie schon wieder müde.
»Gleich darfst du wieder schlafen, Mädel«, meinte Dr. Scheibler. »Sag mir nur noch, wo dir dein Bauch weh tut.«
»Überall«, murmelte Claire.
Dr. Scheibler schlug die Bettdecke zurück und tastete gewissenhaft den Bauch des jungen Mädchens ab, doch Claire zeigte keine Reaktion,