Viola Maybach

Der kleine Fürst 254 – Adelsroman


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      Im Schloss herrschte in dieser Nacht der Ausnahmezustand.

      Bis in die frühen Morgenstunden waren die Schlossbewohner wach geblieben, auch weil die Kriminalpolizei noch gekommen war, um Erkundigungen über die näheren Umstände des Verschwindens von Stephanie und Christian einzuziehen. Und natürlich hatten sie mehrmals mit Stephanies Eltern telefoniert, einmal auch mit ihrer Großmutter Emilia und deren Freundin Hanne Maurer. Sie einte die Angst um die beiden verschwundenen Jugendlichen.

      Später hatten zuerst Anna und Konrad den Kampf gegen den Schlaf verloren und sich in ihre Zimmer zurückgezogen.

      Der Baron war in seinem Sessel eingeschlafen, schreckte aber immer wieder für kurze Zeit in die Höhe, um dann erneut einzunicken, sobald er hörte, dass es keine Neuigkeiten gab. Baronin Sofia jedoch war weiterhin schlaflos durch die Salons gewandert, hatte sich in die Bibliothek gesetzt, war wieder zurückgewandert. Schlafen konnte sie nicht.

      Wie ihr erging es Eberhard Hagedorn. Er brachte Sofia Tee und Kleinigkeiten zum Essen, obwohl sie ein ums andere Mal versicherte, sie brauche nichts, er solle sich doch bitte ins Bett legen und schlafen.

      »Ich kann nicht, Frau Baronin«, erwiderte er, und da sie das verstand, akzeptierte sie es schließlich.

      Marie-Luise Falkner war irgendwann doch nach Hause gefahren, auch Jannik hatte sich in seine Wohnung auf dem Schlossgelände zurückgezogen, obwohl er seinen Ausbilder eigentlich nicht hatte allein lassen wollen. Erst als Eberhard Hagedorn ihm praktisch den dienstlichen Befehl gegeben hatte, noch ein paar Stunden zu schlafen, war er bereit gewesen, das Schloss zu verlassen.

      Als die Dunkelheit der Nacht begann, sich aufzulösen, war es gegen vier Uhr. Zu diesem Zeitpunkt hatte Eberhard Hagedorn dem Drängen von Baronin Sofia endlich nachgegeben und sich zu ihr gesetzt. Sie sprachen leise, um den Baron nicht zu wecken, der gerade wieder eingeschlafen war.

      »Glauben Sie, dass die beiden entführt wurden, Herr Hagedorn?«

      »Ja«, antwortete er ohne zu zögern. »Was sonst sollte passiert sein? Frau Bauer und Herr Stöver sagten, ein Unfall könne mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Und die Tatsache, dass Stephanie ihre Klavierstunde hatte, also einen regelmäßigen Termin, spricht auch dafür. Wenn die Entführer ihre Gewohnheiten studiert haben, wussten sie, wo sie sie finden würden.«

      »Und dann ist Chris aufgetaucht …«, murmelte Sofia niedergeschlagen.

      »Das kann ein Unglück sein, aber auch ein Glück, Frau Baronin.«

      »Ein Glück?«, fragte sie ungläubig. »Wie kann die Entführung eines Menschen ein Glück sein?«

      »Sie sind zusammen«, antwortete er. »Sie können einander stützen. Sie finden vielleicht gemeinsam eine Möglichkeit, sich zu befreien. Zu zweit ist alles leichter.«

      Sie dachte darüber nach. »Möglich ist es«, gab sie schließlich zu. »Es kann aber auch ein Unglück sein, weil die Entführer nicht auf zwei Opfer vorbereitet waren und jetzt überfordert sind. Sie müssen improvisieren.«

      »Ja, auch das ist möglich.«

      »Aber wieso rufen sie nicht an?«, fragte Sofia. »Das ist es, was ich überhaupt nicht begreife.«

      »Vielleicht, weil sie sich erst auf die neue Situation einstellen und überlegen müssen, wie sich das auf ihre Forderungen auswirkt. Außerdem nehme ich an, dass ihnen klar geworden ist, wie vorsichtig sie sein müssen. Den kleinen Fürsten zu entführen ist schon eine ziemlich große Sache. Das erregt viel mehr Aufsehen, als hätten sie allein Stephanie entführt.«

      Sofia lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Ich bin todmüde, aber ich kann trotzdem nicht schlafen«, sagte sie leise.

      »Ich könnte Ihnen heiße Milch mit Honig machen – ein altes Hausmittel, Frau Baronin.«

      Sie wollte schon ablehnen, überlegte es sich jedoch anders. »Gut«, sagte sie. »Ich trinke ein Glas, wenn Sie auch eins trinken. Dann finden wir beide vielleicht wenigstens noch zwei Stunden Schlaf.«

      Er nickte lächelnd und machte sich auf den Weg zur Küche. Als er zurückkehrte, schlief die Baronin. Er stellte das Glas Milch neben ihr auf den Tisch, so konnte sie es trinken, falls sie noch einmal aufwachte. Anschließend zog er sich in seine Wohnung zurück. Er würde nicht schlafen, das wusste er bereits. Die Erinnerungen an seine eigene Entführung quälten ihn, und er wurde das Bild von Stephanie und Christian nicht los, wie sie an einem unbekannten Ort festgehalten wurden, verängstigt und verzweifelt.

      Er war alt und lebenserfahren, und für ihn war die Zeit in der Gewalt der Entführer kaum zu ertragen gewesen. Wie musste es dann erst für Jugendliche – halbe Kinder – sein? Oder ertrugen sie eine solche Erfahrung besser, weil sie die Hoffnung nicht so schnell aufgaben und körperlich widerstandsfähiger waren?

      Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er sich nichts mehr wünschte als ein schnelles und glückliches Ende dieser unseligen Geschichte.

      *

      Bernd Erichsen befreite sich sanft aus Saskias Armen. Ihr Arbeitstag begann deutlich später als seiner. Er war morgens immer einer der Ersten in der Autowerkstatt. Frühaufsteher war er schon immer gewesen, er liebte die ersten beiden Stunden, wenn er praktisch allein war und in Ruhe arbeiten konnte. Morgens um sechs gab es noch Kunden, keine Kollegen, keine drängelnden Telefone, keine Sekretärin, die ständig mit neuen Anfragen kam. Es gab nur ihn und die Autos. Wenn seine Kollegen und der Chef eintrudelten, hatte Bernd in der Regel schon einen Großteil dessen erledigt, was sie am vergangenen Tag nicht mehr geschafft hatten.

      Zuerst war er schief angesehen worden, weil er immer so früh kam, aber die anderen hatten sich daran gewöhnt, auch der Chef, der zunächst von gleitender Arbeitszeit nichts hatte wissen wollen. Mittlerweile wussten es alle zu schätzen, wie viel Bernd in den frühen Morgenstunden wegschaffte.

      Er stand also wie immer um fünf auf. Saskia murmelte etwas im Schlaf, wachte aber nicht auf. Er ging leise ins Bad, duschte, zog sich an.

      Danach ging er in die Küche, um sich einen Kaffee zu kochen. Den brauchte er, um in die Gänge zu kommen. Er nahm auch immer Kaffee in einer Thermoskanne mit, sowie zwei Brote, für sein Frühstück, das er gegen acht einnahm.

      Zu seinem Erstaunen saß Marco am Küchentisch. »Wieso bist du denn so früh auf?«, fragte er.

      Das Verhältnis zu Saskias Sohn war noch immer nicht entspannt, obwohl der Junge nicht länger gegen ihn hetzte und wütete, wie er es zu Beginn ihrer Beziehung getan hatte. Zwar duldete er es jetzt, dass der Freund seiner Mutter gelegentlich bei ihnen übernachtete, aber er begegnete Bernd nach wie vor viel zurückhaltender als seine jüngere Schwester Frieda. Für die Zehnjährige war Bernd längst ein fester Bestandteil der Familie geworden. Sie hoffte – und sagte das auch – dass Saskia und Bernd heirateten, damit sie endlich wieder einen Papa hatte.

      »Ich konnte nicht schlafen«, antwortete Marco.

      »Willst du auch einen Kaffee?«

      Der Junge nickte.

      Bernd stellte also die Kaffeemaschine an und begann, sich die Brote zu machen, die er mitnehmen wollte. »Ich war auch mehrmals wach«, sagte er. »Da war irgendwie Unruhe in der Stadt, ich habe mehrmals eine Polizeisirene gehört.«

      »Ja, ich auch«, sagte Marco.

      Bernd warf ihm einen prüfenden Blick zu. Der Junge kam ihm verändert vor. Er hatte sicherlich nicht nur wegen der Polizeisirenen schlecht geschlafen. »Ist in der Schule alles okay?«, fragte er, um einen beiläufigen Ton bemüht. Wenn Marco das Gefühl hatte, dass er ausgefragt wurde, reagierte er sofort ausgesprochen pampig.

      »Ja, ganz gut eigentlich.« Marco starrte weiterhin vor sich auf den Tisch.

      Bernd überlegte, ob er es wagen konnte, noch weitere Fragen zu stellen, entschied sich dann aber dagegen. Er wusste ja, wie schnell bei Marco die Laune wechselte, und er legte am frühen Morgen keinen Wert auf eine Auseinandersetzung. Er hatte an diesem Tag besonders