Geschichten.«
»Nicht jetzt«, wehrte Denise ab.
Henriks Unterlippe schob sich nach vorne. »Ich darf nie etwas erfahren. Nick würdest du es sofort erzählen. Mutti, das ist unfair. Einmal möchte ich etwas zuerst hören.«
Denise verstand ihren Sohn. Er war eifersüchtig auf seinen älteren Bruder Nick. Dominik von Wellentin-Schoenecker war der eigentliche Erbe von Sophienlust. Denise verwaltete das Kinderheim für ihn bis zu seiner Großjährigkeit.
»Nick darf alles«, maulte Henrik da auch schon weiter.
»Wenn ich ins Bett muß, geht er noch mit Pünktchen spazieren. Er weiß alles, jeder sagt ihm alles.«
»Henrik.« Heidi zupfte den Jungen am Ärmel. »Du kannst doch mit Tante Isi später streiten. Jetzt mußt du die Schokolade holen. Michael weint noch immer.«
»Ich möchte wissen, warum er weint«, erklärte Henrik, dann trollte er sich aber doch ins Büro. Er mußte dazu nur die Halle des Kinderheims durchqueren. Sie war der Mittelpunkt. Von hier führten Türen zu allen im Erdgeschoß liegenden Zimmern. Wenig später kam er mit der Schokolade zurück. Er brach sie auseinander. »Die eine Hälfte ist für Andreas.«
»Ich will Michael die Schokolade geben«, bat Heidi. »Schnell! Er soll nicht länger weinen.«
Michael hörte jedoch nicht auf. Als Heidi ihm die Schokolade hinhielt, schüttelte er den Kopf.
»Ich«, sagte Andreas, und ehe Heidi sich versah, hatte er ihr die Schokoladenhälfte, die für seinen Bruder bestimmt war, aus der Hand genommen. »Ich esse sie. Lade ist gut.«
»Und was ist mit Michael?« Vorwurfsvoll sah Heidi den Kleinen an. Er hatte beide Schokoladenhälften hinter seinem Rücken verborgen.
»Michael mag nicht.« Andreas schielte zu seinem Bruder hinüber.
»Wir müssen Michael aber trösten. Er sieht so traurig aus. Da, er weint schon wieder.«
Andreas schnitt eine Grimasse. Er ging zu Denise, hielt ihr die Schokoladenhälften hin. »Halten für Andreas. Bitte«, setzte er hinzu. »Ich muß schimpfen. Schimpfen mit Michael.«
Denise nahm ihm die Schokolade ab. Sie war genauso neugierig wie Heidi und Henrik, was Andreas nun tun würde. Dieser zögerte nicht. Er stemmte die Hände in die Seiten und nahm vor seinem Bruder Aufstellung. »Aufhören, lieb sein! Sofort!«
»Nicht.« Heidi lief zu Andreas. »Vielleicht tut ihm etwas weh. Kann er nicht sprechen?«
»Doch!« Andreas machte ein grimmiges Gesicht. »Los!«
»Mami, ich will zu Mami.« Michael schluchzte laut.
Auch Henrik hatte Mitleid mit dem Kleinen. Er eilte ebenfalls heran und zog Michael in seine Arme. »Nicht, du mußt nicht weinen. Natürlich darfst du zu deiner Mami. Onkel Henrik wird dafür sorgen. Ich verspreche es dir.« Über den Kopf des Kleinen sah er seine Mutter vorwurfsvoll an.
»Henrik!« Denises Stimme klang mahnend. In seiner Hilfsbereitschaft schoß ihr Sohn gern über das Ziel hinaus.
»Aber, Mutter! Die beiden sind doch noch so klein. Sie brauchen ihre Mami.«
»Zu Mami gehen«, forderte nun auch Andreas. Er packte Henriks Hand. Die Schokolade schien er vergessen zu haben. »Mami wecken. Mami schlafen.«
»Deine Mami schläft, ja, dann ist alles kein Problem. Dann müssen wir nur so lange warten, bis sie aufgewacht ist. Wißt ihr was, bis dahin spiele ich mit euch.« Henrik war Feuer und Flamme. Zu seiner Mutter schaute er nicht mehr hin. Er mußte jedoch eingestehen, daß Michael nicht so leicht zu beruhigen war.
»Mami, will zu Mami. Bitte, bitte.« Er schniefte, dann legte er mit einer treuherzigen Geste seine Händchen gegeneinander.
»Gut, wir werden nicht warten, bis deine Mami aufgewacht ist.« Henrik warf sich in die Brust. Hoheitsvoll stiefelte er auf seine Mutter zu. »Mutti, du mußt etwas tun.«
»Henrik, ich kann nichts tun«, sagte Denise ernst.
»Man muß ihre Mutter wecken. Wo schläft sie denn? Ich verstehe überhaupt nicht, wie man unterwegs schlafen kann.« Temperamentvoll blitzten Henriks Augen.
»Langsam, mein Junge.« Denise legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wenn ich etwas tun könnte, dann hätte ich es getan.«
»Du kannst nicht?« Henriks Gesicht wurde lang.
»Nein, ich kann nicht.« Denise sah ihrem Sohn in die Augen, dann suchte ihr Blick die Zwillinge. Michael weinte schon wieder leise vor sich hin. Sie unterdrückte einen Seufzer, dann sagte sie: »Hol Schwester Regine, dann gib Magda Bescheid. Sie soll für die Zwillinge eine Kleinigkeit zum Essen richten. Ich weiß nicht, wann sie das letzte Mal etwas bekommen haben. Sicher sind sie auch müde«, fuhr sie fort. »Der Tag war für sie sehr anstrengend.«
»Sie bleiben also bei uns.« Henrik war zufrieden. »Magda soll etwas Besonderes für die beiden machen. Vielleicht Grießbrei mit sehr viel Schokolade.«
Unwillkürlich lächelte Denise. Grießbrei hatte ihr Jüngster einst für sein Leben gern gegessen.
»Soll ich die beiden nicht gleich mit in die Küche nehmen?« fragte Henrik. Aber dazu kam es nicht. Er schnappte auf, was Andreas brabbelte. Heidi hatte inzwischen versucht, den Kleinen auszuhorchen.
»Was hast du gesagt?« Henrik fuhr herum. Er sah Andreas an. Da dieser ihm nicht schnell genug antwortete, fragte er Heidi: »Red schon, was hat Andreas da gerade erzählt?«
»Ich wollte wissen, woher er kommt«, gab Heidi Auskunft.
»Ja, und was hat er gesagt?« Ungeduldig trat Henrik von einem Bein auf das andere.
»Auto macht bum«, verkündete Andreas. Dann verzog sich sein Gesichtchen. »Mami nicht mehr sprechen. Wo ist Mami?«
»Auto…« Langsam begann Henrik zu verstehen. Seine Augen weiteten sich. Er sah seiner Mutter ins Gesicht. Diese nickte.
»Es gab einen Verkehrsunfall. Michael und Andreas saßen auf dem Rücksitz.«
»Auto macht bum«, wiederholte Andreas.
»Nicht mehr daran denken«, sagte Henrik mitleidsvoll.
»Auto putt«, fuhr Andreas jedoch fort, »Mami… ganz still.«
»Was ist mit seiner Mutter?« Henrik sah Denise erneut an. »Ist sie…?« Er wagte nicht weiterzusprechen. Wieder nickte Denise.
»Sie sind noch so klein.« Henrik mußte schlucken. Rasch lief er dann zu seiner Mutter. Denise beugte sich zu ihm hinunter, und er flüsterte ihr ins Ohr: »Mutti, Michael und Andreas dürfen das nicht erfahren. Wir müssen alle ganz lieb zu ihnen sein.« Er mußte wieder schlucken. Der Kloß im Hals war sehr dick.
»Was habt ihr denn?« fragte Heidi. »Streitest du dich schon wieder mit deiner Mutti? Soll ich in die Küche gehen?«
»Nein. Ich werde dafür sorgen, daß Michael und Andreas etwas ganz Gutes bekommen. Ich werde mich um die beiden kümmern. Ich werde es auch den anderen sagen.« Plötzlich war Henrik wieder sehr geschäftig. Er wollte alles zur gleichen Zeit machen. Dabei fuhr er sich aber verstohlen über die Augen.
Als die anderen Kinder vom Spielplatz kamen, hatte Magda bereits den Grießbrei fertig. Sie war seit vielen Jahren Köchin auf Sophienlust. Sie konnte nicht nur vorzüglich kochen, sondern wachte auch oft wie eine Glucke über die Kinder. Sie war etwas beleibt, aber sehr mütterlich. Die Zwillinge hatten es ihr sofort angetan, und sie war nur zu gern bereit, sie unter ihre Fittiche zu nehmen. So saß sie jetzt auch am Küchentisch und hielt Andreas auf ihrem Schoß. Vor ihr stand ein Teller mit süßem Brei. Andreas schien es offensichtlich zu schmecken, und er genoß es auch, gefüttert zu werden. Immer wieder öffnete er begierig sein Mündchen. Er war mit dem Schlucken sehr schnell, Magda hatte Mühe, sich seinem Tempo anzupassen.
Denise hielt Michael auf dem Schoß. Der Teller, der vor ihr stand, war noch ganz