Laura Martens

Der Arzt vom Tegernsee 50 – Arztroman


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ection> Der Arzt vom Tegernsee – 50 –

      »Auf geht’s, Franzl, wir sind lange genug durch die Gegend gelaufen«, meinte Dr. Baumann und dirigierte den Hund die beiden Stufen hinauf, die zu der Straße führten, in der sein Haus stand. Wie jeden Morgen hatte er mit Franzl einen ausgiebigen Spaziergang am See gemacht, doch jetzt wartete das Frühstück auf sie. Katharina Wittenberg, seine langjährige Haushälterin, hatte bestimmt schon Kaffee aufgebrüht und den Tisch gedeckt.

      Franzl ergab sich in sein Schicksal und trottete gehorsam zum Doktorhaus. Sie hatten gerade erst das Grundstück erreicht, als Katharina aus dem Haus kam und ihnen entgegenging. »Frau Eschen hat eben angerufen, Eric«, sagte sie. »Als ihr Mann vor zwanzig Minuten aufstehen wollte, konnte er kaum seine Beine bewegen. Außerdem hat er starke Schmerzen. Sie vermutet, daß es sich um einen neuen Schub seiner multiplen Sklerose handeln könnte.«

      »Wahrscheinlich hat sie damit recht«, erwiderte der Arzt. »Ich habe befürchtet, daß seine schwere Erkältung einen neuen Krankheitsschub auslöst.« Eilig trat er ins Haus und ging durch die Verbindungstür in die Praxis hinüber, um seine Tasche zu holen.

      »Dein armes Herrchen hat nicht einmal Zeit zu einem gemütlichen Frühstück, Franzl«, bemerkte Katharina bedauernd und wandte sich der Küche zu. Sie konnte sehr gut verstehen, daß Dr. Baumann sofort zu den Eschens fahren wollte. Davon abgesehen, daß sie Daniela und ihren Mann sehr gern hatte, wußte sie auch, um was für eine heimtückische Krankheit es sich bei multipler Sklerose handelte.

      Eric kam aus der Praxis. Seine Haushälterin erwartete ihn mit einem vollen Kaffeebecher bei der Treppe. »Danke, Katharina.« Rasch griff er nach dem Becher, nahm ein paar Schlucke, gab ihn der älteren Frau zurück und verließ das Haus.

      »Komm, Franzl, unser Frühstück wartet.« Katharina kehrte in die Küche zurück, Franzl folgte ihr. Herausfordernd setzte er sich vor die Speisekammer. »Wuff«, machte er und sah sie so treuherzig an, daß sie lachen mußte.

      Auf dem Weg zum Flechnerhof, der am anderen Ende von Tegernsee lag, erinnerte sich Dr. Baumann daran, wie Stefan Eschen vor zwei Jahren an den Tegernsee gekommen war. Der junge Mann hatte damals schon an multipler Sklerose gelitten, auch wenn sich seine Krankheit noch kaum bemerkbar gemacht hatte. Er hatte Daniela Flechner kennengelernt und wenig später ihrem abenteuerlustigen Bruder Rainer das Leben gerettet, als dieser während einer Schatzsuche in der Althof-Mühle verunglückt war. Die jungen Leute hatten sich ineinander verliebt und geheiratet. Kurz vor ihrer Hochzeit war die Wohnung im zweiten Stock des alten Bauernhauses, das den Flechners gehörte, fertig geworden. Daniela, die inzwischen ein Kind erwartete, arbeitete nach wie vor im Geschäft ihrer Eltern mit, während Stefan eine Anstellung als Lehrer am Tegernseer Gymnasium gefunden hatte. Seine schwere Krankheit hatte ihn bisher nicht allzu sehr belastet.

      Jochen Flechner, Danielas Vater, war auf dem Weg zu seiner Werkstatt, in der er antike Möbel restaurierte, als Dr. Baumann in den Hof fuhr. Er blieb stehen und wartete, bis der Arzt ausgestiegen war. »Guten Morgen, Herr Doktor!« rief er Eric zu.

      »Guten Morgen, Herr Flechner«, antwortete der Arzt. »Ich bin auf dem Weg zu Ihrem Schwiegersohn.«

      Jochen nickte. »Am besten, Sie gehen gleich nach oben«, meinte er. »Stefan geht es gar nicht gut. Hoffentlich können Sie etwas für ihn tun. Wir machen uns alle große Sorgen.«

      »Die Krankheit Ihres Schwiegersohnes ist leider unberechenbar«, sagte Eric. »Aber man muß nicht sofort an das Schlimmste denken.«

      »Leider tut man es automatisch.« Jochen Flechner nickte ihm zu und verschwand in seiner Werkstatt.

      Daniela Eschen öffnete dem Arzt die Wohnungstür. Man sah ihr ihre Schwangerschaft bereits an. Eric erkannte sofort, daß die junge Frau geweint hatte. »Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Eschen«, sagte er und drückte ihre Hand. »Selbst ein schwerer Krankheitsschub muß nicht bedeuten, daß die Lähmungserscheinungen bleiben werden.«

      »Das sage ich mir auch, trotzdem habe ich entsetzliche Angst, Doktor Baumann«, bekannte die junge Frau. »Und was ist mit den Schmerzen? Sie sind für diese Krankheit nicht typisch.«

      »Nein, das allerdings nicht«, antwortete Eric. »Vermutlich liegt bei Ihrem Mann noch eine besondere Nervenreizung vor. Es könnte sich auch um Phantomschmerzen handeln. Derartige Schmerzen treten nicht nur nach Amputationen auf.«

      Daniela führte ihn ins Schlafzimmer. Stefan Eschen lag mit aschfahlem Gesicht im Bett. Er versuchte, sich aufzurichten, aber es kostete ihn große Mühe, da ihn jede Bewegung schmerzte. »Es ist, als würden meine Beine eigentlich nicht zu mir gehören«, meinte er, nachdem sie einander begrüßt hatten. »Trotzdem tun sie mir sehr weh, besonders die Füße. Und dazu diese Empfindungsstörungen…«

      Dr. Baumann stellte seine Tasche auf den Boden. Sorgfältig untersuchte er den jungen Mann. Es gab keinen Zweifel, Stefan

      Eschen hatte einen neuen Krankheitsschub erlitten. »Ich würde Sie gern zu einer Spezialuntersuchung an die Münchner Universitätsklinik überweisen«, sagte er und gab seinem Patienten gegen die Schmerzen eine Spritze.

      »Was bleibt mir anderes übrig, als damit einverstanden zu sein?« fragte der junge Lehrer. »Meinen Sie, daß ich nach der Untersuchung sofort nach Hause entlassen werden kann?«

      »Selbst, wenn du ein paar Tage in der Klinik bleiben müßtest, solltest du damit einverstanden sein, Stefan«, mischte sich Daniela ein. Mit beiden Händen stützte sie sich schwer auf das Fußende des Bettes. »Es ist sehr wichtig, daß alles getan wird, um dir zu helfen.«

      »Ich habe nicht vor, irgendeine Untersuchung zu verweigern«, versicherte ihr Mann. »Es wäre sehr unvernünftig.« Er schenkte seiner Frau ein ermutigendes Lächeln. »Du wirst sehen, Daniela, es ist nur ein Sturm im Wasserglas. Du weißt, mich kann so leicht nichts umwerfen.«

      »Ja, ich weiß«, behauptete Daniela, nur es klang nicht so, als sei sie davon überzeugt.

      Dr. Baumann versprach den Eschens, daß er von seiner Praxis aus in der entsprechenden Abteilung der Münchner Universitätsklinik anrufen würde. »Ich sage Ihnen Bescheid, wann man Sie in München erwartet, und werde mich auch um den Krankenwagen kümmern, der Sie zur Universitätsklinik bringen wird.«

      »Danke, Doktor Baumann.« Stefan reichte ihm die Hand. »Ich bin froh, daß Sie so schnell gekommen sind. Ich fühle mich schon entschieden besser.«

      Das konnte sich Eric zwar nicht vorstellen, doch er hütete sich davor, dem jungen Mann zu widersprechen. Mit ein paar ermutigenden Worten verabschiedete er sich von ihm.

      Daniela brachte den Arzt wenig später in den Hof hinunter. »Ich wußte immer, daß so etwas passieren könnte«, sagte sie. »Damals, als Stefan und ich uns ineinander verliebten, warnte er mich davor, einen Mann zu heiraten, der an multipler Sklerose leidet.« Sie blickte zu Doktor Baumann auf. »Eines können Sie mir glauben, ich würde Stefan jederzeit noch einmal heiraten.«

      »Ich bin sehr froh, daß Sie so denken, Frau Eschen«, antwortete Doktor Baumann. Er mochte Daniela und ihre Familie sehr und hoffte von ganzem Herzen, daß es Stefan schon bald wieder bessergehen würde.

      Als Eric nach Hause zurückkehrte, sah er, daß der Wagen von Franziska Löbl bereits in der Einfahrt stand. Er ging ins Haus, machte sich ein wenig frisch und bat seine Haushälterin, ihm sein Frühstück in die Praxis hinüberzubringen. Er wollte sich mit Franziska über Stefan Eschen unterhalten. Der junge Mann würde in der nächsten Zeit verstärkt Krankengymnastik brauchen, und er hoffte, daß sie bereit sein würde, zu den Eschens auf den Hof zu kommen.

      Franziska war sofort damit einverstanden. »Es macht mir nichts aus, die Eschens zu besuchen«, schrieb sie auf den Block, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag. Als Kind hatte sie einen schweren Autounfall gehabt und konnte seither nicht mehr sprechen.

      »Danke, Franziska«, erwiderte Eric. »Ich hoffe nur, daß die Krankheit bei Herrn Eschen bald zu einem erneuten Stillstand kommt. Du weißt ja selbst, daß es viele Kranke gibt, die niemals gezwungen sind, im Rollstuhl zu sitzen. Leider kann man das niemals voraussagen.«

      »Das macht diese Krankheit ja so heimtückisch«, schrieb Franziska. Sie schaute auf. »Manfred und ich haben gestern abend beschlossen, schon eine Woche vor Weihnachten zu heiraten und nicht erst im