öffnet den Mund und schließt ihn sofort wieder. Er zuckt nur mit den Achseln.
»Ich will Ihnen helfen«, betont Doktor Rauh abermals und erhebt seine Stimme wieder. »Aber Sie müssen sprechen.«
Karsten macht eine kurze Handbewegung. »Sie können mir nicht helfen. Keiner kann mir helfen, und ich will auch nicht, daß Sie mir helfen.«
Doktor Rauh möchte den Mann hernehmen und tüchtig schütteln. Er fühlt, daß hinter dieser Ablehnung keine Verstocktheit steht.
Plötzlich hebt Karsten den Kopf. »Sie wollen mich vor einem Unglück retten?« Seine Lippen verziehen sich spöttisch. »Wissen Sie denn, ob es ein Glück für mich wäre, jetzt frei zu sein?«
Doktor Rauh stutzt. Eindringlich fragte er: »Karsten, was verbergen Sie vor mir, vor Ihren Richtern, überhaupt vor den Menschen?«
Sekundenlange Stille, dann ein kurzes, entscheidendes:
»Nichts!«
Achselzuckend wendet Rauh sich der Tür zu und gibt dem Wärter einen Wink, seinen Platz wieder einzunehmen. Zu Karsten sagt er:
»Dann wünsche ich Ihnen nur, daß das Gericht auf mildernde Umstände zurückgreift. Ich kann nichts mehr für Sie tun.«
Karsten kämpft mit sich. Ein kurzer Kampf ist es. Dann steht er schnell auf und geht auf den Mann zu, der in den langen Wochen immer wieder versucht hat, ihm zu helfen. Er streckt ihm seine Hand entgegen.
»Ich danke Ihnen für alles, Doktor. Sie meinen es gut mit mir. Aber –« Er zögert, und vorübergehend pressen sich seine Lippen zusammen. Ganz langsam öffnen sie sich wieder. »Ich – ich habe meine Gründe.«
Karsten sieht mit einem verzweifelten Ausdruck auf die Tür, die sich hinter der massigen Gestalt des Rechtsanwaltes geschlossen hat. Von dieser Minute an kommt die große Unruhe über ihn, Unruhe und eine grenzenlose Einsamkeit.
*
»Im Namen des Volkes…«
Der Gerichtshof steht, auch der Angeklagte steht hoch aufgerichtet in seiner Bank.
»… und so sind wir nach reiflicher Überlegung zu der Überzeugung gekommen, daß es eine Affekthandlung war, zu der der Angeklagte gereizt wurde. Da der Angeklagte ein bis jetzt ernsthafter, unbescholtener Mann mit bestem Leumund war, haben wir unedle Motive ausgeschaltet. Nach Paragraph…«
Ein Laut fällt in die erwartungsvolle Stille. Eva-Maria Harris, blaß bis in die Lippen, hat ihn ausgestoßen. Sie preßt die Hände gegeneinander, schlingt die Finger zusammen, daß sie ihr schmerzen, und verhält sich wieder ruhig.
Der Vorsitzende vollendet seine Rede.
»… aus diesem Grunde hält das Gericht die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat mit zwei Jahren Gefängnis für abgegolten.«
Eva-Maria Harris sinkt mit geschlossenen Augen auf ihrem Stuhl zurück.
Herrgott! Lieber, guter Gott – denkt sie! Zwei Jahre wird er überstehen. In zwei Jahren wird er nicht zugrunde gehen.
Langsam leeren sich die Bänke im Zuschauerraum. Der Gerichtshof hat den Saal verlassen. Auch Karsten wird davongeführt.
Er sieht nicht, daß unweit von ihm eine Frau an der Wand lehnt und mit brennenden Augen zu ihm hinüberstarrt.
Er würde sie wahrscheinlich gar nicht wiedererkennen. Er hat sie sicher vergessen, die Frau, deren Geschäft für Antiquitäten und kunstgewerbliche Arbeiten er vor einem Jahr modern und harmonisch umgestaltet hat. Aber er hat den größten Eindruck bei ihr hinterlassen. Nie hat sie ihn vergessen können. Er war damals besessen von seiner Arbeit und von seiner Liebe zu Marion Wendland.
Als die hohe Männergestalt verschwunden ist, kehrt sie sich dem Ausgang zu.
Zwei Jahre, denkt sie! Ich werde auf ihn warten! Vielleicht wird er eines Tages geheilt von seiner Krankheit, die Marion Wendland heißt.
*
»Wo bleiben denn meine Koffer?« herrscht Marion Wendland die langsam näherkommende Pensionswirtin an. Wenn man die mollige Frau näher betrachtet, hat man den Eindruck, sie sei aus dem vorigen Jahrhundert übriggeblieben. Alles wirkt altmodisch und verstaubt an ihr. Aber das Herz, das sitzt auf dem rechten Fleck, und sie ist ihren Pensionsgästen weniger Wirtin als Mutter. Sie war es auch zu der eleganten Marion Wendland. Eigentlich nicht ihretwegen, aber um des Mannes willen, mit dem sie verlobt war. Sie hat nun einmal ihr Herz an Ulrich Karsten verloren, in wahrhaft mütterlicher Art. Sie hat seinen Wert, seine Zuverlässigkeit und Treue erkannt.
Marion Wendland starrt die Wirtin an. »Mein Gott, wie sehen Sie denn aus? Sind Sie krank?«
»Man kann es auch so nennen«, erwidert die gleichmütig und bleibt in der Tür stehen.
»Und wo bleiben meine Koffer?« Marions Stimme ist herausfordernd.
»Die werden Sie sich wohl selbst vom Boden holen müssen«, erwidert Milli Bothe gelassen. »Das Mädchen hat Ausgang, und ich rühre für Sie keinen Finger mehr.«
Marion Wendland läßt vor Überraschung das Nachthemd aus den Händen gleiten.
»Was soll denn das heißen?«
Milli Bothe kreuzt die Arme über der üppigen Brust. Sie ist ganz verändert. Die kleinen, flinken Augen unter dem ergrauten Haar blitzen nur so vor Verachtung. »Ist das so schwer zu begreifen? Ich sagte es bereits. Keinen Finger rühre ich mehr für Sie – Sie –«
»Erlauben Sie mal«, braust Marion Wendland auf. »Was ist das für ein Ton?«
Langsam kommt Milli Bothe näher.
»Ich will Ihnen mal was sagen«, beginnt sie mit zitternder Stimme, die aus einem empörten Herzen kommt. »Bisher habe ich Sie für eine anständige Frau gehalten. Aber seit heute weiß ich, daß Sie eine ganz schäbige Person sind. Schämen Sie sich kein bißchen vor den Leuten?« unterbricht sie ihren Redestrom und macht eine wegwerfende Handbewegung. »Quatsch! Was gehen mich die Leute an. Vor sich selbst müßten Sie sich schämen. Da sitzt ein grundanständiger Mensch auf der Anklagebank – Ihretwegen –«
Marion Wendland erbleicht und weicht unwillkürlich vor der sich in Fahrt befindlichen Frau zurück.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Warum haben Sie denn dann nicht gesprochen? Sie sind ja seine Verlob-
te –«
»Ich war es, bitte.«
»Das kann ich mir denken«, höhnt Milli Bothe. »Heute, wo er in der Patsche sitzt, da wollen Sie nichts mehr von ihm wissen. Ich war nicht dabei. Aber ich glaube die Szene förmlich vor mir zu sehen. Sie sind an allem schuld.« Jetzt kann Milli Bothe sich nicht länger beherrschen. Sie schreit der Frau ins Gesicht, was sie bedrückt. »Dieser üble Bursche, dieser John Unger, war Ihr Liebhaber –«
»Ich verbitte mir –«
»Sie haben mir überhaupt nichts zu verbieten«, faucht Milli Bothe. »In meinem Haus schon gar nicht. Aber einer muß Ihnen einmal die Wahrheit sagen. Sie haben ein gemeines Spiel mit Ulrich Karsten getrieben.«
Sie ballt die Faust und streckt sie der am ganzen Körper zitternden, sonst so selbstherrlichen Frau entgegen. »Aber das sage ich Ihnen, so wahr ich Milli Bothe heiße, Ulrich Karsten wird alles von mir erfahren, was ich über Sie weiß.«
Milli Bothe atmet tief und erregt. »So, das wollte ich Ihnen nur sagen, und nun können Sie Ihre Koffer packen und verschwinden.«
Die Dielen knarren unter dem energischen Schritt der Frau. Marion Wendland sinkt in den nächsten Stuhl. Sie schlägt die Hände vor das Gesicht und atmet erregt. So völlig unverhofft sind die Vorwürfe der sonst so liebenswürdigen Wirtin, die sie immer für ein wenig dusselig gehalten hat, auf sie herniederprasselt, daß sie erstmals ein Gefühl befällt, was sie sonst nicht gekannt hat.
Angst! Richtige