Walter J. Dahlhaus

Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung


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in einem heilpädagogischen Rahmen wie Kindergarten oder Schule oder im sozialtherapeutischen Bereich bzw. im Zusammenhang einer WfbM, einer Werkstatt für behinderte Menschen. Zusätzlich steht dieser Personenkreis in einem weiteren unterstützenden Bezugsrahmen wie Heim, Tagesstätte oder betreuten Wohnstrukturen. Daneben gibt es noch das familiäre Umfeld. Hier habe ich unterschiedliche Beziehungsstrukturen kennengelernt. Menschen mit kognitiven Einschränkungen und Assistenzbedarf erfahren teilweise durch Eltern und Geschwister eine entscheidende Förderung und Unterstützung. Gerade auch bedingt durch den Umstand, dass Mitarbeiter heilpädagogischer und sozialtherapeutischer Institutionen häufig nur begrenzte Zeit verweilen, kann der familiäre Hintergrund oft Garant von Kontinuität sein.

       Überforderung von Angehörigen

      Daneben habe ich wiederum Angehörige erlebt, die durch das So-Sein der Betroffenen – gerade auch wenn zusätzlich eine seelische Erkrankung besteht – überfordert waren.

      Dies bedingt, dass ich die betroffenen Menschen fast ausschließlich im Zusammenhang mit ihren Begleitern aus dem fachlich-institutionellen wie auch aus dem familiären Hintergrund betreue.

       Not der Begleiter

      Die Not der Erkrankten ist fast immer auch eine Not der Begleiter. Dies führte in den vergangenen Jahren dazu, dass ich für Kollegien heilpädagogischsozialtherapeutischer Einrichtungen, auf Fortbildungen und Tagungen sowie in Ausbildungsstätten vermehrt Weiterbildungsangebote über den Zusammenhang »seelische Erkrankungen bei Menschen mit Intelligenzminderung« gestaltet habe.

       hilfreiche Strukturen schaffen

      Es galt und gilt, für diese Thematik zu sensibilisieren – um darauf aufbauend anzuregen und zu unterstützen, dass hilfreiche Strukturen geschaffen werden können, die den Bedürfnissen der Betroffenen angemessen sind. Auf diesem Boden können dann weitere therapeutische Maßnahmen angewendet werden.

      Die in diesem Zusammenhang in mehr als 20 Jahren gesammelten Erfahrungen sind in dieses Buch eingeflossen.

      Mein Schreiben ist getragen von der Hoffnung, dass ein größeres Wissen über seelische Erkrankungen helfen kann, sich entwickelnde Krankheiten früher zu erkennen, um möglichst früh möglichst hilfreiche Bedingungen – persönlicher wie struktureller Art – für die Betroffenen wie auch für die Begleiter gestalten zu können.

      Allzu lange ist dieser Zusammenhang – das gleichzeitige Auftreten von intellektueller Beeinträchtigung und psychischer Erkrankung – nicht hinreichend wahrgenommen worden. Viele herausfordernde Verhaltensweisen von Betroffenen wurden unter dem Begriff der »Verhaltensstörung« be- und verurteilt. So wurde oft versäumt, die wirklichen Ursachen, den zielführenden Grund des Verhaltens, aufzusuchen, um adäquate Hilfen, Therapien und positive Strukturen anzubieten und aufzubauen. Oft ist übersehen worden, dass für viele Menschen mit kommunikativer und intellektueller Beeinträchtigung das jeweilige Verhalten die einzige zur Verfügung stehende »Sprache« ist.

       Verhalten als »Sprache«

      Gemeint ist damit Folgendes: Wie soll sich ein Mensch, der sich sprachlichkommunikativ nicht ausdrücken kann, der nicht über konstruktive Äußerungsmöglichkeiten wie Gebärdensprache, Bilder oder andere Formen einer »Unterstützten Kommunikation« (UK) verfügt, anders ausdrücken als über sein Verhalten?

      Wir können als Menschen nicht nicht kommunizieren, wie es einmal benannt wurde.1 So können wir jedes Verhalten als Kommunikation verstehen – Rückzug, scheinbar situationsinadäquate Verhaltensweisen, expansivaggressive Zustände … alles, ohne Ausnahme, ist Kommunikation, oder anders ausgedrückt: »Sprache«. Es obliegt den Begleitern, zu versuchen, dieses jeweilige Verhalten zu »lesen«, diese »Sprache« nach und nach zu erlernen, also hinreichend zu verstehen. Und es gibt viele dieser Sprachen!

      Entscheidend ist, diesen Zugang zu einem Verständnis nicht zu früh und zu schnell durch ein Urteil (beispielsweise, indem man den Begriff »Verhaltensstörung« ins Spiel bringt) zu verschließen.

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       aufmerksames Beobachten

      Dieser Zugang des aufmerksamen Beobachtens ist der Beginn jeder Therapie.

      Erst etwa seit den 1990er-Jahren wurde zunehmend erkannt, dass all die seelischen Erkrankungen, die wir bei sogenannten nicht behinderten Menschen kennen und behandeln, auch bei Menschen mit Behinderungen auftreten.

      Ein wesentlicher Pionier auf diesem Weg ist der holländische Psychiater Professor Dr. Anton Došen, der 2010 schrieb: »Im letzten Jahrzehnt wurde der große Rückstand der psychiatrischen Diagnostik und Behandlung von Menschen mit intellektueller Behinderung zum Teil aufgeholt. Während damals noch vor allem betont werden musste, dass Menschen mit einer intellektuellen Behinderung psychische Störungen – wie alle anderen Menschen auch – haben können, ist diese Tatsache heutzutage bekannt und weitgehend akzeptiert.«2

       Zusammenhänge verstehen

      Wir sind heute weiter – haben aber noch eine lange Wegstrecke vor uns. Immer noch begegnet mir bei meinen Kontakten mit Betroffenen – vor allem aber mit Angehörigen, Mitarbeitern und Teams heilpädagogischer und sozialtherapeutischer Einrichtungen – ein großes Bedürfnis, diese Zusammenhänge tiefer zu verstehen. In vielen Fortbildungen für Kollegien und Einrichtungen oder in Unterrichtssituationen vertiefte sich die Frage, wie therapeutische Strukturen aussehen und gestaltet werden könnten, die die spezifischen Bedürfnisse der Betroffenen berücksichtigen. Dies darzustellen und zu entwickeln ist Anliegen dieses Buches.

      Die folgenden Ausführungen sind von meinem persönlichen Hintergrund geprägt: Ich bin Psychiater, d.h. ich bin Arzt. Als solcher bin ich bemüht, die Erkrankungen gemäß einer allgemein gültigen Sichtweise in Diagnose und Therapie darzustellen. Und ich bin anthroposophisch orientierter Arzt – das bedeutet, dass ich in meiner ärztlichen Tätigkeit eine Erweiterung dieses gültigen medizinischen Ansatzes zu verwirklichen versuche. Diese Erweiterung findet sich insbesondere in den sogenannten »menschenkundlichen Beschreibungen«.

       Menschenkunde

      Der Begriff »Menschenkunde« geht auf Rudolf Steiner und sein erweitertes Menschenbild zurück. In meinem ärztlichen Tun eröffnet mir dieser Ansatz wesentliche Zugänge zum Verstehen von und Handeln mit erkrankten Menschen, insbesondere auch bei Menschen in Heilpädagogik und Sozialtherapie.

       die Betroffenen verstehen

      Das Buch folgt dabei einem ausgesprochen pragmatischen Ansatz: Sowohl die allgemeinen Beschreibungen der Krankheitsbilder, insbesondere aber die menschenkundlichen Erweiterungen verdienten vielfach eine breitere Ausführung. Vor dem Hintergrund des zur Verfügung stehenden Rahmens ist alles allein auf das Ziel ausgerichtet, das Verstehen der Betroffenen zu fördern sowie die therapeutischen Zugänge zu ihnen anschaulich darzulegen und somit zu erleichtern.

       Zielgruppen

      Das Buch richtet sich vor allem an Heilpädagoginnen und Heilpädagogen, an Heilerziehungspflegerinnen und Heilerziehungspfleger (HEP) und an in der Sozialpädagogik sowie der Sozialtherapie Tätige. Im Besonderen wendet es sich auch an Menschen, die sich in einer diesbezüglichen Ausbildung befinden. Ganz allgemein ist es für Menschen in sozial, medizinisch und pädagogisch ausgerichteten Berufen gedacht, auch für Ärzte, deren Tätigkeitsbereich nicht primär in diesem Bereich liegt; aber auch für Personen, die beispielsweise im Rahmen einer Behörde im Kontakt zu Menschen mit Unterstützungsbedarf stehen.

      Eine wichtige Zielgruppe sind aber auch die Angehörigen. Oft lange alleine gelassen im Verstehen wie im Unterstützen ihrer Kinder oder Geschwister, sind sie doch – wie bereits erwähnt – diejenigen, die eine Kontinuität in der Begleitung gewährleisten, gerade auch in Zeiten kritischer Zuspitzung. Und letztlich hoffe ich, dass auch die Betroffenen selbst von diesen Darstellungen profitieren können.