Rolf Neuhaus

Reisen nach Ophir


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leidlich aufrecht, das Meer ist wild und aufregend schön, dann lässt der Sturm nach, es wird wieder wärmer, viele Tage lang ist nichts als die blauschwarze Scheibe des Indischen Ozeans zu sehen, das kreisrunde Meer in seiner grausigen Unendlichkeit, darüber der glühende Himmel und nachts die in sattem Dunkelblau strahlende Weite des Sternenzelts, und inmitten des Kosmos schleicht verloren und sinnlos das Schiff dahin, Hesse lehnt melancholisch an der Reling und gibt sich der »Trauer des ungeheuren leeren Horizonts« hin.

      Nach 16 Tagen an Bord endlich neun Stunden Landgang in Colombo, neun Stunden bunter, greller Orient, die erste Kostprobe der Tropen. Die Bordkapelle schmettert, die Passagiere drängen in die Motorboote und in die Barken mit den nackten Ruderern, am Strand wedeln die Kokospalmen, in der Ferne ragen fantastisch schöne Berge auf, die Damen entfalten ihre Sonnenschirme, die Herren setzen sich ihr Wahrzeichen auf, den Tropenhelm. Die neue Stadt ist hübsch und lebendig, doch brutal europäisiert, ein kleiner Tempel mit hundert Figuren an der Fassade und heilig goldener Dämmerung im Innern repräsentiert das alte Colombo. Auf dem Eingeborenenmarkt sieht er wunderliche, aromatische, saftige Früchte und schöne dunkelbraune Menschen, der Orient ist köstlich und märchenhaft, die Frauen tragen Goldplatten in den Nasenflügeln, die Kinder betteln, überall liegen Würde und Groteskerie nah beieinander. Man fährt mit der Pferdekutsche zum eleganten Galle Face Hotel ans Meer, Händler und Gaukler mit Kobras und Mungos lagern davor, man trinkt Whisky und spielt Billard, dann nimmt man eine Rikscha und fährt mehrere Stunden an herrlichen Gärten mit seltsamen Bäumen und groβen Schmetterlingen, an Sportanlagen, Polospielfeld und Badeplatz vorbei und durch schillernde Gassen mit kleinen Läden. Die leicht und zart gebauten Singhalesen mit ihren mageren Prinzengesichtern und ergebenen Rehaugen sind höflich, kindlich, lachen gern, die weiβen indischen Soldaten mit Turban sind schöne stolze Männer und haben die Zähne rot vom Betelkauen, Ceylon ist unwirklich, fabelhaft in seiner grellen Farbenfülle. Für Hesse ist Europa grell, Arabien grell, Indien grell, aber jeweils anders grell.

      In George Town auf Penang (Pinang), einem der britischen Straits Settlements an der Malaiischen Halbinsel, werden Hesse und Sturzenegger von dessen Bruder abgeholt und als Erstes zum malaiischen Schneider geführt, der den Neuankömmlingen Maβ zu nehmen hat für standesgemäβe weiβe Tropenanzüge. Weiter per Rikscha zum Eastern and Oriental Hotel, dem schönsten Europäerhotel der hinterindischen Halbinselwelt, in dem Hesse eine fürstliche Wohnung angewiesen wird: Vorzimmer, Schlafzimmer, ein Riesenbett mit Moskitonetz, Waschraum, Ankleidezimmer, ausschweifend bequeme Liegestühle, vor der Veranda klatscht das blaugrüne Meer an die Mauer, ehrwürdige Palmen stehen im roten Sand, die rotbraunen und gelben Segel der Dschunken leuchten. Vom stickigen Kabinenloch in die luxuriöse Sahib-Suite, in den Tropen wird man automatisch befördert und ist gleich wer. Ein kleiner Chinese mit Philosophenaugen und Diplomatenhänden trägt im luftigen Vorzimmer geräuschlos Tee und Bananen auf, zum Dinner geht es in den hübschen Speisesaal, wo man bei ganz guter Tafelmusik das üble Essen eines anglo-indischen Hotels mit leiser Enttäuschung hinunterwürgt. Dafür entschädigt die Nacht, die keine ist, denn hier gibt es keinen Sonntag und keine Nacht, sondern überall und zu jeder Stunde brennendes Leben. Der flinke, starke Rikschakuli läuft in frohem Trab in die drollig elegante Stadt, an allen Amtsgebäuden und groβen Kaufhäusern prangt eine Art Pseudorenaissance, die Chinesenhäuser hingegen sind einfach, leicht und hübsch, überall sieht man Chinesen, die heimlichen Herrscher des Ostens, überall chinesische Läden, Werkstätten, Schaubuden, Teehäuser, Freudenhäuser, hin und wieder geht es durch eine Malaien- oder eine Hindugasse an weiβen Turbanen über dunklen Vollbärten und an Frauengesichtern voller Goldschmuck vorbei. Köche sieden und braten auf der Straβe, ihre Klienten essen an langen Brettertischen für zehn Cents nicht schlechter als Hesse für drei Dollar im Hotel gegessen hat, kleine Straβenhändler kauern auf hohem Brett über ihrer Bude und warten geduldig auf Abnehmer für eine Handvoll getrocknete Fische oder ein Häuflein Betel, in einer Schusterwerkstatt hämmern und nähen 20 Arbeiter, ein Barbier schert ruhig und würdevoll am Rand der brausenden Straβe, Obsthändler verkaufen fantastische Erfindungen einer überbordenden Natur, auf Arbeit wartende Träger hocken zusammen und erzählen sich Geschichten, ein muslimischer Kaufmann breitet auf seinem Ladentisch Tücher aus, die fast immer aus Europa stammen. Auf dem Bordstein sitzen japanische Dirnen und gurren wie fette Tauben, in den chinesischen Bordellen glänzt golden der Hausaltar gegenüber dem Eingang, auf offenen Veranden über der Straβe spielen sich alte Chinesen beim Glücksspiel heiβ, andere liegen und rauchen, alle Gestalten der östlichen Märchen sind hier versammelt, nur die Könige, Wesire und Henker fehlen.

      Man besucht eine Bretterbude von chinesischem Theater, die Chinesen sitzen Zopf an Zopf, die Männer still und rauchend, die Frauen still und Tee trinkend, in alten Kostümen wird ein altes Stück gespielt, von dem Europäer wenig verstehen, Gebärden und Bewegungen sind streng vorgeschrieben und perfekt einstudiert, alles ist stilisiert und zeremoniell, alles greift rhythmisch und harmonisch ineinander, Schritte, Gesten, Stimmen und Musik sind tadellos aufeinander abgestimmt, die einfache Melodie kehrt immer wieder, monoton, mit winzigen Variationen, die ewigen Becken- und Paukenschläge stören allerdings, sonst ist alles fein und delikat, nur etwas zirpend. Leider geht man auch noch in ein Malaientheater, malaiische Mimen singen und tanzen die Räubergeschichte von Alibaba, die Musik ist völlig europäisch und stammt aus einer modernen Harmoniummaschine, übler Operettenstil, varieteeartig, die Prachtkulissen sind wahnsinnig grell und von grotesker Hässlichkeit, in gelungener Spekulation auf die »Affeninstinkte« der Malaien fabriziert, es ist eine unfreiwillige Parodie auf alle Entgleisungen europäischer Kunst. Hier und jetzt wie auch später und überall sieht Hesse die armen Malaien, diese lieben, schwachen Kinder, rettungslos den schlimmsten europäischen Einflüssen ausgeliefert. Anderntags Visite in Sturzeneggers hiesigem Geschäft, dort arbeiten chinesische Schreiber mit feinen zarten Händen klug und still und machen freundliche Gesichter, malaiische, chinesische und indische Händler kaufen ein, der Import versaut den Osten mit Kleiderstoffen, üblen Tassen, Tellern, Schuhen, Whisky, Spielkarten. Ausflüge führen im Autobus am Strand und an Kokos- und Fächerpalmen und primitiven Rohrhütten der Fischer entlang, durch Europäerstraβen mit hübschen Villen in weiten dunklen Gärten, zu Fuβ den Penang Hill hinauf zum Cray Hotel, wo man ein Bad nimmt und die Kleider wechselt und den Lunch einnimmt, zurück durch Farnwildnis und den Dampf fruchtbarer Täler, durch Kokoshaine und Dörfer, vor deren Hütten Muskatnüsse auf Tüchern trocknen.

      Auf dem Festland fährt man per Eisenbahn durch Kautschukpflanzungen und Urwaldrodungen Richtung Singapur. In jedem Coupé erster Klasse sind vier breite Ledersessel, drauβen wälzen sich Wasserbüffel träge im Sumpf. Bei der Ankunft in Ipoh vermisst Hans Sturzenegger zwei Koffer, sein Bruder hat hier geschäftlich zu tun, die Stadt ist ohne Reiz. Im Kinematographen gibt es üble europäische Filme, dazu spielt eine Malaienband europäische Musikfragmente miserabler und rührender als jede kleine, hilflose, besoffene heimische Dorfkapelle. Die Koffer tauchen nicht auf. Kuala Lumpur macht einen eleganten, wohlhabenden, gediegenen Eindruck, das feine Hotel Empire ist äuβerlich imposant, doch Kost und Service sind zum Kotzen. Sturz kriegt seine Koffer wieder, Hesse geht in den Blumengärten eines öffentlichen Parks auf Schmetterlingsfang. Besuch zweier Tropfsteinhöhlen, Rückweg durch Rubber-Estates und Tamilendörfer, die Weiber tragen all ihr Vermögen an sich. Ein bequemes Bett aus zwei Sitzen im Nachtzug nach Johore, doch kein Schlaf, sondern ein schnarchender Holländer. Übersetzen nach Singapur, viel Jungle und Sumpf, Autofahrt über rote erdene Straβen und durch Kokoswald ans Meer, dann Besuch eines malaiischen Theaters, lustiges Zeug weit besser gespielt als in George Town. Bis Mitternacht Whisky im Singapore Club, morgen, vier Wochen nach Genua, geht’s erst richtig los.

      Mit ihren 15 Kisten und Koffern schifften sich Hesse und die Brüder Sturzenegger auf einem kleinen holländischen Küstendampfer ein. Sie waren die einzigen Passagiere der ersten Klasse und hatten das Hinterdeck für sich. Dort saβen sie in altväterlichen Lehnstühlen am weiβ gedeckten Tisch und lieβen sich von drei aufmerksamen und hübschen Javanen bedienen. Im Unterschied zu den chinesischen Boys der Hotels in den Straits Settlements und den Malay States, die ebenso schlecht und lieblos zu servieren pflegten wie europäische Kellner in einem Durchschnittshotel, umkreisten jene Javanen die Gäste mit der einschmeichelnden Treue guter Krankenschwestern, kamen jedem Wunsch lächelnd und ohne Hast zuvor, schenkten die Gläser nach jedem Schluck wieder voll, standen mit brennendem Streichholz bereit, noch bevor der Raucher bemerkte, dass seine Zigarre ausgegangen war. In