Ursula Hellwig

Sophienlust - Die nächste Generation 7 – Familienroman


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wird eine ganze Weile dauern, bis ich mir alle Namen gemerkt habe«, gestand Charly mit einem verlegenen Lächeln und schaute sich um. Ihr Blick glitt über den weitläufigen Park, an den Ställen und der Pferdeweide vorbei, und blieb an der schmuckvollen Fassade des Herrenhauses haften.

      »Ist das wirklich ein Kinderheim?«, erkundigte sich die Elfjährige. »Oder gibt es dahinter noch ein anderes und einfacheres Haus, in dem das Kinderheim untergebracht ist?«

      »Nein, hinter diesem Haus gibt es nur noch ein paar kleine Hütten für Gartengeräte und unsere Fahrräder«, erklärte Irmela, mit ihren siebzehn Jahren das älteste Dauerkind. »Was du hier siehst, das ist Sophienlust. Hier wohnen wir alle zusammen unter einem Dach. Das heißt, Tante Isi wohnt mit ihrer Familie auf Gut Schoeneich, gleich hinter dem kleinen Waldstück da vorne. Aber tagsüber ist sie meistens in Sophienlust.«

      Charly war geradezu überwältigt. »Es ist wunderschön hier, und dieser riesige Park ist viel größer als der Garten von Sankt Josef, in dem wir spielen durften. Was ist denn mit den Wiesen dort hinten, auf denen Pferde stehen? Die gehören wahrscheinlich einem Reiterhof, den es hier in der Nähe gibt. Darf man die Pferde trotzdem streicheln oder vielleicht sogar mit ein paar Möhren füttern?«

      Henrik, Nicks elf Jahre alter Halbbruder, hatte es sich nicht nehmen lassen, an diesem Tag auch nach Sophienlust zu kommen. Er hielt sich häufig hier auf, vor allen Dingen aber immer dann, wenn ein neues Kind aufgenommen werden sollte. Jetzt kicherte der Junge vergnügt.

      »Wenn du Lust hast, darfst du auf diesen Pferden sogar reiten. Füttern ist sowieso erlaubt. Hier in der Nähe gibt es keinen Reitstall. Diese Pferde gehören zu Sophienlust und natürlich auch die Ponys.«

      »Wirklich?« Charly schüttelte ungläubig den Kopf. »So ein Kinderheim habe ich noch nie gesehen. Das heißt, ich kenne ja nur eines, habe aber viel über andere Kinderheime erfahren. Schwester Linda und Schwester Ariane haben oft mit uns über andere Heime gesprochen. In einigen schien es ganz schön zu sein, in anderen nicht. Aber dass es ein Kinderheim gibt, zu dem Pferde gehören, wusste ich bis jetzt nicht. Und Hunde gibt es auch noch. Das finde ich toll.«

      »Dann wirst du gleich noch mehr staunen, wenn wir dich durch das ganze Haus führen und dir alles zeigen. Im Wintergarten gibt es nämlich noch ein paar Tiere. Dort leben einige Wellensittiche und Habakuk, unser Papagei. Der kann sogar sehr gut sprechen, und es wird bestimmt nicht lange dauern, bis er deinen Namen sagen kann.«

      Charly hatte ihre anfängliche Schüchternheit längst abgelegt und brannte förmlich darauf, nun auch Habakuk kennenlernen zu dürfen. Die Kinder erfüllten ihr den Wunsch gerne, und schon bald hatten sich alle im Wintergarten versammelt. Der Papagei betrachtete die Gruppe, die den Wintergarten betreten hatte und sich nun um ihn herum versammelte.

      »Habakuk! Schöner Habakuk, kluger Habakuk. Nick, du Lausebengel«, schnarrte der Vogel sofort und hüpfte aufgeregt von einem Bein auf das andere. »Habakuk will Leckerchen!«

      »Du bist ein verfressener Papagei«, stellte Pünktchen amüsiert fest und steckte Habakuk einen kleinen Keks zu, den er in eine Kralle nahm und innerhalb weniger Momente aufgeknabbert hatte.

      Jetzt baute sich Martin vor dem Vogel auf.

      »Charly«, sagte er gedehnt. »Wir haben einen neuen Gast, und der heißt Charly. Sag doch mal Charly, Habakuk. Charly, Charly.«

      Der Papagei hielt den Kopf schief, schaute Martin aufmerksam an und lauschte der Stimme des Jungen, der den Namen noch mehrmals wiederholte.

      »Charly«, krächzte er dann. »Charly, gib Leckerchen. Habakuk will Leckerchen. Charly.«

      »Das ist aber ein schlauer Vogel«, stellte Charly bewundernd fest. »Schade, ich habe überhaupt kein Leckerchen, das ich ihm geben könnte.«

      »Das ist kein Problem«, erwiderte Pünktchen, öffnete einen kleinen Schrank und griff in eine Pappschachtel, aus der sie eine Knab­berstange holte. »Hier, die kannst du Habakuk geben. Diese Stangen mag er besonders gern.«

      Charly reichte dem Vogel die Leckerei, die er ihr förmlich aus den Fingern riss. Genau diese Knabberstangen liebte er wirklich über alles.

      »Und was sagt ein gut erzogener Vogel, wenn er ein so leckeres Geschenk bekommt?« wollte Angelika wissen. »Was sagt ein Vogel dann? Na, was sagt ein Vogel dann?«

      »Geh weg, dumme Pute«, schnarrte Habakuk und widmete sich eingehend seinem Leckerbissen.

      Angelika blähte empört die Backen auf. »Das ist doch wirklich eine Frechheit«, bemerkte sie lachend. »Danke hättest du sagen sollen.«

      »Danke, dumme Pute«, ließ Habakuk sich vernehmen und brachte die Kinder mit dieser Bemerkung zum Lachen. Auch Charly amüsierte sich köstlich. So lustig wie hier war es im Kinderheim Sankt Josef nie zugegangen. Zugegeben, dort hatte es auch keine Tiere gegeben, die für Späße gesorgt hatten.

      Sophienlust gefiel der Elfjährigen wirklich ausnehmend gut. Als sie abends in ihrem Bett lag und den Mond betrachtete, der über dem Park am nachtblauen Himmel stand, atmete sie befreit auf. Hier war es wirklich schön. Charly hoffte, dass sie sehr lange, vielleicht sogar für immer in Sophienlust bleiben durfte. Das war im Moment ihr größter Wunsch.

      *

      Denise von Schoenecker saß mit Nick und der Heimleiterin Frau Rennert beisammen und sichtete die Unterlagen, die sie von Schwester Ariane bekommen hatten und die Charly betrafen. Es handelte sich um die üblichen Dokumente, wie alle Menschen sie besitzen. Darunter befand sich allerdings auch der versiegelte Briefumschlag, auf dem Charlys Mutter vermerkt hatte, dass er nur im Falle ihres Todes geöffnet werden sollte. Nick hielt diesen Umschlag nachdenklich und etwas unentschlossen in seinen Händen.

      »Es widerstrebt mir, solche Siegel zu brechen«, gestand er. »Aber in diesem Fall kann ich das wahrscheinlich tun. Charlys Mutter lebt nicht mehr. Also habe ich das Recht, diesen Umschlag zu öffnen.«

      »Du hast nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht«, bemerkte Denise. »Charlys Mutter hat Vorsorge getroffen und wollte, dass das, was sich in diesem Umschlag befindet, nach ihrem Tod ans Tageslicht kommt. Dieser Wunsch muss ihr jetzt erfüllt werden.«

      Dieses Argument sah Nick ein und hatte nun keine Skrupel mehr, das Siegel zu zerstören. Er zog einen weißen Briefbogen aus edlem Papier hervor und faltete ihn auseinander. Damit auch seine Mutter und Frau Rennert erfuhren, was Charlys Mutter auf diesen Briefbogen geschrieben hatte, las er laut vor:

      »Ich hoffe, dass dieser Umschlag niemals von einem Menschen geöffnet werden muss, der sich um meine Tochter Charlotte kümmert, weil es mich nicht mehr gibt. Nun ist es aber doch dazu gekommen, und ich möchte, dass meine geliebte kleine Charly auch ohne mich wieder glücklich werden kann. Deshalb ist es wichtig, dass ihr Vater bekanntgegeben wird. Ich wollte ihn nie belasten. Wir beide haben uns wegen eines dummen Streits aus nichtigem Anlass getrennt, als ich noch nicht wusste, dass ich bereits schwanger war. Charlys Vater hat deshalb keine Ahnung, dass er eine Tochter hat. Ich habe nie wieder Verbindung zu ihm aufgenommen. Er sollte sich nicht verpflichtet fühlen, für ein Kind sorgen zu müssen, das er vielleicht gar nicht haben wollte. Jetzt hat sich allerdings alles geändert. Charly steht ganz allein auf der Welt. Sie hat keine Großeltern mehr und keine sonstigen Verwandten, die sich um sie kümmern könnten. Es gibt nur noch ihren Vater, und den bitte ich von Herzen darum, seine Tochter nicht im Stich zu lassen, auch wenn er bisher nichts von ihrer Existenz wusste. Wer immer Sie auch sind, bei dem meine kleine Charly nun Zuflucht gefunden hat, ich bitte Sie, zu ihrem Vater Kontakt aufzunehmen und ihm mitzuteilen, dass er ein Kind hat. Charlys Vater heißt Steffen Kronberg und besitzt mehrere Juweliergeschäfte in ganz Deutschland. Wohnhaft war er damals in einem kleinen Ort in der Nähe von Frankfurt. Inzwischen ist er allerdings umgezogen. Ich kenne seine neue Adresse nicht, aber die wird sich herausfinden lassen. Bitte sorgen Sie dafür, dass Stefan Kronberg die Wahrheit erfährt, und lassen Sie ihn diesen Brief mit den Worten lesen, die ich an ihn richte: Lieber Steffen! Es tut mir leid, dass wir damals einfach so auseinandergegangen sind. Vielleicht waren wir beide noch zu jung und zu unreif, um die dumme Meinungsverschiedenheit zu bewältigen. Aber wir haben trotz allem ein gemeinsames Kind. Ich