Juergen Stryjak

Ägypten


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sein. Mehr aber auch nicht. »Einige werden sich dazu gratulieren. Andere spüren, dass sie hintergangen wurden. Auf absehbare Zeit werden die Kräfte zersplittert bleiben.«

      Das war eine ziemlich präzise Voraussage einiger Ereignisse, die in den ersten Monaten nach der Revolution tatsächlich so geschehen sollten. Als hätte es einen Plot gegeben, einen Masterplan des Militärs, das als zentraler Strippenzieher versuchte, die Ergebnisse der Revolution zu seinen Gunsten zu neutralisieren.

      Das ist nun idealer Stoff für Verschwörungstheoretiker, und wie bei allen Verschwörungstheorien ist es ratsam, skeptisch zu sein. Niemand kann ein so komplexes, krisengeschütteltes Land mit damals mehr als 90 Millionen Einwohnern und mit so vielen grundverschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Akteuren choreographieren wie ein Marionettenspiel. Welche Pläne die Armee damals hatte, bleibt weitestgehend Spekulation. Bislang wurden kaum interne Dokumente, Gesprächsprotokolle oder Dienstanweisungen veröffentlicht. Man kann aber davon ausgehen, dass sich die Militärs auf das, was kommen würde, so gut es geht einstellen wollten, auch im Zusammenspiel mit dem Ausland. Immerhin weilte Sami Annan, damals Stabschef der Streitkräfte, zu Beginn der Revolution in Washington, auf einem der jährlichen Routinetreffen mit Pentagon-Offiziellen. Vor dem Hintergrund der Proteste wird es diesmal natürlich um mögliche Zukunftsszenarien gegangen sein.

      Niemand bezweifelt, dass die ägyptische Armee viel zu verlieren gehabt hätte, falls es tatsächlich zu einem demokratischen, zivilen Umbau des Landes gekommen wäre. Meistens werden in diesem Zusammenhang immer die »Pfründe« genannt, die das Militär sichern wollte. Die Streitkräfte betreiben zahlreiche Firmen, darunter Dutzende Großunternehmen, und kontrollieren damit einen ordentlichen Teil der ägyptischen Wirtschaft. Ein großer Teil des Landbesitzes befindet sich in Armeehänden und kann nach Lust und Laune an interessierte Investoren verkauft werden. All dies ermöglicht zudem eine ganze Menge Korruption und Vetternwirtschaft.

      Aber es drohen weitere Gefahren: Eine Armee, die plötzlich von der zivilen Politik kontrolliert wird und nicht umgekehrt, muss damit rechnen, dass irgendwann Vergangenheitsbewältigung betrieben wird. Welche Offiziere haben Schuld auf sich geladen, wo haben sie ihre Macht missbraucht und Menschenrechtsverletzungen begangen? Wer wird zur Rechenschaft gezogen – oder einfach nur ausgetauscht, weil ein Machtwechsel immer auch einen Wechsel des Führungspersonals nach sich zieht. Es sind vermutlich landesweit Tausende Familien, deren Ansehen, Status und Wohlstand stark davon abhängen, dass das Familienoberhaupt einen ehrenwerten Posten in der Armee bekleidet. Und dann gibt es natürlich auch jene Militärs, denen das Schicksal des Landes am Herzen liegt und die glauben, dass Ägypten dem Untergang geweiht ist, wenn man es einer freien, demokratischen, zivilen Gesellschaft ausliefert. Für das ägyptische Militär stand also viel auf dem Spiel. Wenn es tatsächlich das aufmüpfige Volk für die Idee gewinnen wollte, dass die Armee auch weiterhin die Macht im Land behält, dann müsste die Alternative dazu etwas sein, das sich kaum jemand im Land wirklich wünschen könnte. Die Militärs müssten für Bedingungen sorgen, die für die Leute so schwer zu ertragen sind, dass sie am Ende die Armee um Hilfe bitten. Niemand weiß – außer den Generälen selbst –, ob das ihr Plan war. Interessant ist allerdings, dass genau dies in den knapp zweieinhalb Jahren nach der Revolution tatsächlich geschah.

       Inszenierte Rebellion

      Nach der Entmachtung Mubaraks am 11. Februar 2011 sind die Aktivisten des Volksaufstandes beziehungsweise die Revolutionäre, wie man sie in Ägypten nennt, eine Weile noch Helden, auch für das Militär, das sie hin und wieder sogar als edle Söhne und Töchter Ägyptens preist. Ahmed Maher von der Protestbewegung 6. April und einer der wichtigsten Wortführer der Revolution erinnerte sich gegenüber einem Reporter der New York Times an seine erste Begegnung mit den Armeeführern vom Obersten Rat der Streitkräfte (SCAF): »Sie waren merkwürdig nett und lächelten und versprachen uns viele Dinge. Sie sagten: ›Ihr seid unsere Kinder, ihr habt das getan, was wir seit Jahren schon tun wollten.‹« Das Treffen fand drei Tage nach dem Sturz Mubaraks statt. Bei weiteren Treffen eine Woche später und einen Monat später hätten die Armeeführer wieder gelächelt und dieselben vagen Zusicherungen gemacht.

      Die hochrangigen SCAF-Offiziere werden für die Übergangszeit die neuen Machthaber im Land. Sie bilden eine Übergangsregierung, die aber in Kernfragen nur der Erfüllungsgehilfe der Armee ist. Das Parlament wird aufgelöst, Mubaraks einstige Regierungspartei verboten. Der Oberste Rat der Streitkräfte ernennt neue Minister und setzt sie wieder ab. Er erlässt Gesetze – ganz undemokratisch, denn sie werden einfach formuliert und den Menschen vorgesetzt. Vieles von dem ist in solch einer Übergangsphase nicht anders möglich. Aber die Aktivisten beschleicht das Gefühl, dass sie zum Spielball geworden sind. Sie und andere Kräfte des Umbruchs sind komplett vom Wohlwollen der Armee abhängig, die sie immer wieder zappeln lässt. Es kommt zu neuen Protesten, im Sommer 2011 wird auf dem Tahrir-Platz für ein paar Wochen wieder ein Protestcamp errichtet. Eine Formulierung, die man ab jetzt ständig hört, lautet: »Die Revolution ist noch nicht zu Ende, sie geht weiter.«

      Jeder macht sich seinen eigenen Reim auf den Schwebezustand, in dem sich das Land befindet. Die Zeitung Al-Masry Al-Youm schreibt im Juni, dass es mindestens 200 Revolutionskoalitionen im Land gibt. Mehr als 60 Parteien wurden neu gegründet. Vielleicht ist es das, was Robert Springborg meinte, als er sagte, dass die politischen Kräfte auf absehbare Zeit zersplittert bleiben würden. Aber diese Fragmentierung hat auch damit zu tun, dass sich plötzlich fast jeder im Land für Politik interessiert. Im Cilantro Café im Kairoer Viertel Zamalek treffe ich Ghada Arafa. Die 29-jährige Projektmanagerin in einem IT-Unternehmen erzählt, dass sie ihr ganzes Leben lang unpolitisch und passiv verharrte. »Ich war nie eine aktive Bürgerin. Aber jetzt habe ich mich über meine Rechte informiert und über meine Verantwortung, und ich möchte dieses Wissen weitergeben.« Innerhalb weniger Tage mobilisiert sie per SMS und E-Mail rund 300 Freiwillige. Auf Workshops in Nachbarschafts- und Jugendzentren bereiten die Freiwilligen interessierte Wähler auf die kommenden Wahlen vor, besonders in Armenvierteln. Sie erzählen den Leuten zwar nicht, was sie wählen sollen, aber worauf sie achten müssen, wenn sie zum Beispiel Wahlprogramme lesen oder den Kandidaten zuhören. Die Resonanz ist überwältigend, besonders bei den sogenannten einfachen, eher ungebildeten Leuten. »Im Bassatin-Viertel sagten die Leute, wir sollen unbedingt wiederkommen. Sie würden dann ihre Familien und Nachbarn mitbringen.«

      Auch in die Muslimbruderschaft kommt Bewegung. Mitglieder verlassen die Organisation oder werden ausgeschlossen, weil sie sich der strengen ideologischen Disziplin widersetzen. So wie Islam Lotfy, der ja bereits am 28. Januar von Mohammed Mursi persönlich dafür gescholten wurde, dass er sich der Revolution angeschlossen hatte. Im Frühsommer treffe ich mich mit ihm im Café Groppi am Talaat-Harb-Platz. Das von dem Schweizer Giacomo Groppi vor gut hundert Jahren eröffnete Kaffeehaus war einst eine der feinsten Adressen des kosmopolitischen Kairo, bevor es immer trister und schäbiger wurde und später dann ganz schließt. Das Café Groppi eignet sich hervorragend für Interviews, weil es so zentral liegt und oft leer ist. Und so schildert mir hier Islam Lotfy, der frühere Muslimbruder, dass die Revolution auch sein Islam-Verständnis veränderte, vor allem mit Blick auf das Verhältnis von Staat und Religion: »Es ist nicht die Aufgabe des Staates, den Islam attraktiv für die Menschen zu machen. Er muss für Freiheit und Demokratie sorgen, damit die Leute frei leben und denken können. Dann entscheiden sie selber, was für sie attraktiv ist.« Lotfys Auffassungen sind für die alten Ideologen der Bruderschaft undenkbar. »Wenn es eine Verfassung gibt, auf die sich die Bürger demokratisch einigten, wenn es Rechtsstaatlichkeit gibt und alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, wenn sie den frei wählen, der sie repräsentieren soll – dann ist es mir völlig egal, ob ich von einem Muslim oder einem Christen oder von einer Frau regiert werde. Meinetwegen von einem Affen.« Der damals 33-jährige Anwalt lacht und fügt hinzu: »Wenn er sich an die Verfassung hält.«

      Zu jener Zeit laufen im Land atemberaubende Denkprozesse ab, es ist, als hätte jemand das Fenster geöffnet und frische Luft hereingelassen. Aber die Muslimbruderschaft hat keine Lust mehr auf ideologische Grabenkämpfe. Mit starrem Tunnelblick visiert sie bereits ihr wichtigstes Nahziel an: die Parlamentswahlen im Winter 2011, bei denen sie als am besten aufgestellte Kraft mit einem überwältigenden Erfolg rechnet. Immer