ILSA BAREA-KULCSAR
TELEFÓNICA
ROMAN
Herausgegeben und mit einem
Nachwort versehen von Georg Pichler
EDITION ATELIER WIEN
INHALT
STATT EINER WIDMUNG
Ich habe eben den Zeitungsbericht von der Übergabe Madrids gelesen. Die Truppen des Generals Franco sind in die Stadt eingezogen. Die Frauen und Kinder in den Straßen haben die Soldaten um Brot, die Männer haben sie um Zigaretten angebettelt. Die Fahne des nationalistischen Spanien wurde auf der Spitze des Telephongebäudes gehißt, jenes Wolkenkratzers, der in den Jahren der Belagerung am meisten beschossen und bombardiert wurde … So ähnlich lautete die karge Meldung.
Vor meinem Zimmer ist ein grüner Rasen, den feiner weicher Nebel einzuhüllen beginnt. Auf dem Zaun sitzt eine Drossel. In der Hecke lärmt ein Chor von kleinen Vögeln. Die gelben Kelche der Märzbecher schwanken leise. Ich bin in England. Aber lauter als das Summen des feuchten Holzes im Kamin ist das Surren von Flugzeugmotoren. Drei schwarze Vögel ziehen langsam und niedrig den friedlichen Horizont entlang. Übungsflugzeuge oder Luftwache? Sie haben hier Zeit, ihre Flieger auszubilden, weil Madrid sich erst gestern ergeben hat, nicht vor zweieinhalb Jahren.
Bald wird man nicht mehr verstehen, wie es war. Es werden die Legenden entstehen und die lebenden oder die nun schon toten Menschen verdecken, die sich nicht fügen wollten und die sich nicht ergaben, weil sie es nicht für recht hielten. Ich habe in jenen Monaten in der Telefónica von Madrid gelebt. Ich will versuchen, diese Menschen – nicht die aktenmäßige, sondern die innere Wahrheit von uns allen – in einem Buch leben zu machen, so wie sie mich heute beherrschen: es ist deshalb für mich sinnlos, ihnen das Buch zu widmen.
Die häßlichen Häuser Madrids verwandeln sich in eine wunderbare Stadt, wenn der leuchtende Abend sie als phantastische Blöcke vor den dämmerigen Hügeln aufschimmern läßt, oder wenn die weiße Mittagssonne sie als grelle, glatte Flächen mit schmalen Schattenkanten auf eine tief und dunkelblau flimmernde Himmelsglocke malt.
Dann verliert der amerikanische Wolkenkratzer der Telefónica seine kleinlichen Simse und Türmchen und wird zum Festungsturm dieser traumhaften Stadt.
Die Telefónica war der Wachtturm und das Wahrzeichen Madrids in jenen ersten Belagerungsmonaten, als die Menschen über alle die kleinen Ängste und kleinen Tapferkeiten ihrer Einzelleben hinaus zu einem kämpfenden Volk verwuchsen. Diese Gemeinschaft auf Leben und Sterben, der sich keiner entziehen konnte, war sehr dicht und warm innerhalb der hohen Betonmauern der Telefónica, denn die dort arbeiteten und lebten, fühlten sich auf Vorposten des Todes. Und doch starb keiner in diesen Monaten im Gebäude der Telefónica von Madrid und das Haus selbst lebte weiter, mit hundert Granatlöchern im Leibe.
Seine Fenster blickten auf die Front. Zu seinen Füßen lagen Sandsäcke. Und vom Turm der Telefónica sahen wir an den Abenden, bevor die Dunkelheit ohne Lichter kam und das Nachtgefecht begann, unser zerquältes, zerkämpftes Madrid als körperlose, zeitlose Festung leuchten.
Ilsa Barea
Hertfordshire, 29. März 1939
TELEFÓNICA
Erster Teil
I.
»Ist es wahr, daß man nicht mehr getroffen werden kann, wenn man die Granate pfeifen hört?« fragte Johnson.
Er ging mit Simms und Warner durch die Calle de Alcalá mit dem Gefühl, ein unerforschtes Dschungel zu durchqueren. Es war der 16. Dezember 1936. Er war in Madrid und man erwartete in seiner Redaktion von ihm, eine Serie von Berichten über die Verteidigung und bevorstehende Eroberung der Stadt zu erhalten. Vor fünf Tagen war er noch in London gewesen; das schien ihm phantastisch.
»Ja, es ist wahr«, antwortete ihm der kleine Warner, der sich selbst mit Vorliebe an dieses Stück Beruhigung klammerte. »Ich hoffe es wenigstens.« Das Mausgesicht mit den lebhaften Augen war erfüllt von innerer Spannung, alle Muskeln spielten unter der Haut: Warner war schon drei Monate als Kriegsberichterstatter in Madrid.
Von irgendwoher kam ein dumpfer Krach.
»Das ist Richtung Plaza de Callao«, sagte Simms, der seit fünf Jahren in Madrid lebte und jede Gasse kannte und liebte. »Klingt wie großes Kaliber … Nein, das mit dem Pfeifen ist eine Legende. Man kann sich auf nichts verlassen. Man weiß nie, ob es einen erwischt oder nicht.«
Sie gingen schweigend weiter.
»War das jetzt eine Granate?« fragte Johnson. Sein feines Intellektuellengesicht unter dem strohblonden Haar drückte nur Neugier aus, aber innerlich fragte er sich völlig ratlos: »In was für eine Welt bin ich geraten?«
Warner hatte es für eine Granate gehalten, aber er zog es vor, zu sagen: »Nein. Übrigens, wenn Sie eine Explosion in der Nähe hören, werfen Sie sich auf den Boden, Johnson.«
»Das haben mir jetzt schon alle Leute gesagt. Ich glaube, ich werde auf diese Art meinen Anzug ruinieren«, sagte Johnson. Was für eine Pose, das zu sagen, dachte er, und fügte laut hinzu: »Na, es ist mein erster Tag in Madrid.«
Sie bogen in die Gran Vía ein.
»Dort ist die Telefónica«, sagte der kleine Warner. »Sie wissen, die Telephonzentrale. Gehört den Amerikanern, jetzt ist sie von der Republik angefordert und unter die Kontrolle der Militärbehörden gestellt worden. Schauen Sie das Haus gut an, Johnson, dort werden Sie von jetzt an den Hauptteil Ihrer Zeit verbringen. Die Presse und die Zensur sind dort zu Hause. Es ist das höchste Haus von Madrid und die beste Zielscheibe für die Nationalisten.«
Johnson betrachtete den großen weißen Block mit den konventionellen Türmchen auf dem Sims des Daches.
»Warum arbeitet die Presse dort, wenn das Haus so gefährdet ist?« fragte er und dachte an seine Freundin Anita, die seit heute in diesem Gebäude zu sitzen hatte, als Zensor – unangenehmer Beruf! –, als Zielscheibe.
»Wir können nur von dort aus mit dem Ausland telephonieren«, erklärte Simms, der, schweigsam wie immer, mit langen, ruhigen Schritten an Johnsons Seite ging. »Deshalb hat man uns ein Arbeitszimmer eingerichtet. Das ist immerhin noch sicherer, als mit jeder einzelnen Nachricht durch diese Straße zu gehen. Es ist kein angenehmer Weg.«
»Die Telefónica ist außerdem der Beobachtungsposten für den Generalstab«, sagte Warner, der immer das Bestreben hatte, sich als gut informiert zu zeigen, gerade weil ihn die Kollegen wegen seiner Jugend nicht recht für voll nahmen. »Wenn man aufpaßt, was im Hause vorgeht, kann man allerlei erraten. Nur ist die Zensur dumm und die Anarchisten verrückt vor Spitzelfurcht.«
Ein feines, langgezogenes Pfeifen: die drei spannten alle Nerven an, um auf die Explosion vorbereitet zu sein.
Es kam keine Explosion. Nur ein dumpfer Schlag. Eine leichte Staubwolke stob aus einem der gegenüberliegenden Dächer.
»Blindgänger«, konstatierte Simms. »Sonst wäre es für uns nicht vorteilhaft gewesen. Die Granatsplitter fliegen weit.«
Der kleine Warner war etwas