Mascha Dabić

Reibungsverluste


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Stimme gehörte zu einem kleinen Jungen, etwa fünf Jahre alt, der in Socken auf dem Gang stand und Nora aus seinen großen dunkelbraunen Augen ernst anblickte. Offenbar wohnte der Kleine im Haus.

      »Entschuldigung«, sagte Nora und lächelte verlegen. Ernst dreinblickende kleine Kinder nötigten ihr Respekt ab.

      »Stimmt, so etwas sagt man nicht. Wie heißt du? Wo ist deine Mama?«

      »Und wie heißt du?«

      »Ich heiße Nora. Und du?«

      »Ich heiße Jusuf.«

      »Und wo ist deine Mama?«

      »Ich habe keine Mama. Mein Papa ist beim Arzt. Meine Schwester ist da«, sagte Jusuf und deutete mit dem Kopf zu einer halb offenen Tür, die zu einer Wohneinheit führte. Im ersten Stock gab es einige Wohnungen für Familien, im zweiten Stock waren alleinstehende Männer untergebracht, auf Russisch Odinotschki genannt, und im dritten Stock befanden sich diverse Büros, in denen Sozialarbeit, Rechtsberatung, Sprachkurse und Psychotherapie angeboten wurde. Wenn Nora im Wohnbereich ihren Automatenkaffee holte, kam sie sich wie ein Eindringling vor. Sie fühlte sich an ihre Zeiten im Internat und in diversen Studentenheimen und WGs erinnerte, wo man vom Bad bis zum eigenen Zimmer einen Korridor durchqueren musste, was kleidungstechnisch mit einem logistischen Aufwand verbunden war. Erst in Vladimirs Wohnung war es für sie nach vielen Jahren wieder möglich gewesen, den Weg vom Bad bis zum Kleiderschrank nackt oder nur in ein Handtuch gewickelt zurücklegen. Für sie war es damals der ultimative Beweis dafür, endlich angekommen zu sein, was immer das bedeutete.

      Im ersten Stock sah Nora manchmal Männer und Frauen mit nassen Haaren, in Schlafröcken oder Jogginganzügen, mit verschlossenen Gesichtern, Menschen, die so aussahen, als sei ihnen das Warten auf den Asylbescheid in jede Faser des Körpers eingeschrieben, als habe ihre gesamte Existenz den Aggregatzustand des Wartens angenommen. Auf den ersten Blick wirkten die im Haus wohnenden Kinder anders, sie konnten laut und verspielt sein, aber Nora hatte manchmal den Eindruck, dass sie das kindliche Verhalten zum Teil aus reinem Pflichtgefühl an den Tag legten, weil man es von ihnen erwartete. Schaute man den Kleinen etwas länger zu, hatte man das Gefühl, dass ihnen die Angst und die Unsicherheit der Erwachsenen keineswegs fremd waren.

      Nora schaute den kleinen Jusuf an. Mit seinen rotbesockten Füßen, von denen eine Micky Maus heruntergrinste, stand er ruhig da und schaute zurück. Nora zwang sich zu einem kinderfreundlichen Lächeln.

      »Gehst du in den Kindergarten?«

      »Ja.«

      »Dort gefällt es dir, ja?«

      »Ja.«

      »Jusuf! Juuusuuuf!!« – rief eine Stimme aus dem Zimmer. Ein etwa zwölfjähriges Mädchen mit rotblonden Haaren kam heraus und sagte im raschen Tempo einige Sätze auf Tschetschenisch, die nach Schimpfen klangen. Nora hörte nur ein russisches Wort heraus, komnata für Zimmer, ansonsten blieb ihr der Wortschwall mit den vielen Kehllauten vollkommen unverständlich, aber auch so war klar, dass hier eine ältere Schwester ihren kleinen Bruder zurechtwies. Jusuf warf Nora noch einen letzten ernsten Blick zu, dann drehte er sich um, trippelte folgsam ins Zimmer und war einen Augenblick später hinter der blassgrünen Plastiktür verschwunden.

      Nora stieß noch einmal die schwere Glastür mit der Schulter auf und stieg die zwei Stockwerke hinauf, sorgfältig darauf bedacht, diesmal keinen Kaffee zu verschütten. Mit dem rechten Ellbogen drückte sie die Türklinke hinunter und stieß die Tür auf.

      »Danke, bist ein Schatz!«, sagte Erika und nahm ihren Kaffee entgegen.

      »Tschick?«, fragte Nora und deutete mit dem Kopf zur Teeküche. »Rauchst du noch? Oder schon wieder?«

      »Eigentlich schon seit fünf Tagen aufgehört, aber heute mache ich eine Ausnahme.«

      »Auf keinen Fall! Ich will dich nicht verführen!«

      »Ach was, verführ mich …«, sagte Erika schnurrend und griff nach ihrer magischen Schublade, die Nora als »Erikas Mary-Poppins-Tasche« bezeichnete, weil sie alles enthielt, was man im Büroalltag gebrauchen konnte. Mit einer geschickten Bewegung zog Erika eine Packung extralanger Damenzigaretten und ein knallgelbes Feuerzeug heraus.

      In der Teeküche setzten sich die beiden an den kleinen Tisch am Fenster, Erika gab Nora Feuer und zündete dann ihre überlange schmale Zigarette an.

      »Also, erzähl mal. Liest du wieder?«

      »Nein. Ich sagte doch, drei Monate Lesestreik. Da bin ich konsequenter als du mit deinem Rauchen«, sagte Nora und lachte, während sie genüsslich den Rauch durch die Nase ausblies.

      »Na wart nur, irgendwann sitzt du beim Zahnarzt und greifst nach einer Zeitschrift, und dann liest du dort eine Buchbesprechung, und dann, wirst sehen, dann rennst du nach Haus und stürzt dich auf das erstbeste Buch und liest die ganze Nacht durch. So wird’s sein! Das schau ich mir dann an, deinen Lesestreik!«, sagte Erika und versuchte vergeblich, mit den Lippen den Rauch zu einem Ring zu formen.

      »Und was gibt’s sonst bei dir? Hast du wieder Kontakt mit Vladimir? Und was ist mit diesem anderen, diesem Timothy? Kommt er dich jetzt besuchen oder nicht?«

      »Vladimir hat mir zum Geburtstag eine SMS geschickt, aber ich habe nicht geantwortet. Interessiert mich nicht.«

      Erika nahm einen Schluck von ihrem Cappuccino, nickte anerkennend und sagte: »Glatte fünf Punkte.«

      »Timothy kommt angeblich Ende des Monats nach Wien«, sagte Nora, »aber das glaub ich erst, wenn ich ihn wirklich vor mir seh. Der hat schon zwei Mal kurzfristig abgesagt, weißt du noch? Letztes Mal hatte er angeblich einen Bänderriss. Ich glaub kein Wort davon. Akutes Manierenversagen nenn ich so was. Diesmal überleg ich ernsthaft, ob ich nicht selbst kurzfristig absagen soll. Einfach so, aus Rache.«

      »Scheiß auf Rache, davon hast du nichts. Sieh lieber zu, dass du ein schönes Wochenende mit ihm verbringst. Bist ja noch jung. Genieß das Leben, solang du noch keine eigene Familie hast.«

      »Meine liebe Erika, wenn ich so weitermache, kann ich die Kinderkriegerei und das ganze Familiendings sowieso vergessen«, lachte Nora und stocherte mit ihrer Zigarettenspitze vorsichtig im Aschenbecher herum.

      »Und, ist das ein Problem?«

      »Nicht wirklich.«

      »Na siehst du. Bist ja noch jung. Red keinen Unsinn, das kommt noch alles.«

      »Aber sicher nicht mit Tim, das steht fest. Alles, was ich so quasi zu bieten habe« – Nora zeichnete mit ihren Fingern ausladende Gänsefüßchen in die Luft –, »das hat er schon, glaub mir. Schöner, größer, besser. In seinem Universum bin ich kein Fixstern, das sag ich dir. Allenfalls so ein kleiner Trabant«, sagte Nora und lachte bitter.

      »Jetzt hörst du aber sofort auf mit diesem Scheiß! So was will ich gar nicht hören. Mit dir kann man überhaupt nicht über Männer reden! Du siehst immer alles so melodramatisch!«

      »Das kommt von der Überdosis an russischer Literatur. Aber damit ist ja jetzt Schluss«, rechtfertigte sich Nora. »Keine Sorge, ich werd mich schon nicht vor einen Zug werfen, wenn Mister Timothy nicht auftaucht.«

      »Na, das will ich hoffen. Aber jetzt mal etwas ganz anderes, was ist eigentlich mit diesem FWF-Antrag?«

      »Frag lieber nicht. Keine Ahnung. Wir warten noch.«

      »Ich drück dir die Daumen.«

      »Weiß nicht so recht. Vielleicht war das alles keine so gute Idee. Stell dir vor, wir kriegen das Projekt. Was dann? Dann muss ich mich jahrelang mit EU-Russland-Beziehungen herumschlagen, und Ukraine-Krise, und die Krim, und Russlands Beteiligung in Syrien, und irgendwelche Dokumente analysieren, Politikerreden interpretieren und so ein Zeug. Ich frag mich, will ich das überhaupt?«

      »Na, das hättest du dir aber vorher überlegen müssen, meine Liebe.«

      »So ist es. Ganz genau so«, sagte Nora resigniert, drückte ihre Zigarette in den Aschenbecher und zündete sich sofort die nächste an.