Thorsten Oliver Rehm

Subliminal


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das schon… Die Möglichkeiten waren immens, wer wusste schon, wozu sie sie verwenden würden, ihnen war alles zuzutrauen. Sie hatten sich verrannt in ihrem Wahnsinn, das hatte er inzwischen erkannt.

      Dachte er anfangs noch, sie würden Fortschritt bringen, eine bessere Zukunft und das Wohl der Menschheit, so war er sich inzwischen sicher, dass sie unzählige Menschen in den Abgrund rissen, in einen dunklen Abgrund, so dunkel wie das Loch, das sich vor ihm auftat, als in diesem Moment die Schleusentür des geheimen Unterwasser-Forschungslabors zur Seite glitt. Zischend und bedrohlich, als öffne sich ein Tor zur Unterwelt, in die er nun hinabtauchen musste, um das Geheimnis zu schützen, es zu verbergen…

      Langsam glitt er hinaus in die nächtliche See.

      Das eiskalte Meerwasser schmerzte ihn auf der Stirn, der ungeschützten Gesichtspartie und den Lippen. In wenigen Sekunden schon würde er das Stechen nicht mehr spüren und diese Körperstellen unempfindlich für die Kälte werden. Schwer umhüllte ihn das schwarze Wasser, das ihn empfing, er spürte das Gewicht, den Druck der Wassermassen auf sich lasten. Wahrscheinlich war es nur sein Gewissen, das auf ihm lastete. Doch heute Nacht – jetzt – würde er umkehren und den richtigen Weg einschlagen.

      Ob er es wagen konnte, seine Taucherlampe einzuschalten, damit deren Lichtstrahl das schwarze Nichts durchschneiden und ihm den Weg weisen konnte? Nein, besser, er minimierte jetzt jedes zusätzliche Risiko, bemerkt zu werden. Bildete er es sich nur ein, oder zitterten seine Hände? War es die Kälte oder die Angst im Nacken? Mit seinen in unförmigen, kälteisolierenden Handschuhen steckenden Händen knickte er einen kleinen chemischen Leuchtstab in der Mitte ein. Sofort setzte die chemische Reaktion ein, wie ein Glühwürmchen, umgeben von schwarzer Nacht, begann das Stäbchen zu schimmern, verloren im unendlich erscheinenden Nichts. Mehr psychologische Stütze als wirklich den Weg erhellendes Leuchten. Die See war in dieser Nacht so dunkel wie das Geheimnis, das er verbergen wollte. In der Tiefe versenken würde er das Teil, es dem Vergessen anheimgeben, bis die Zeit reif und die Menschheit dafür bereit war; in der Tiefe der See versenken, die sich in solcher Schwärze offenbarte, wie das Geheimnis sich denjenigen offenbaren würde, die es eines Tages bergen würden. Noch hoffte er, dass seine heutige Aktion letztlich eine reine Vorsichtsmaßnahme war und er in wenigen Tagen die Chance bekam, die Dinge geradezurücken. Wenn er wieder auftauchte, würde er diesen Wahnsinn ans Tageslicht bringen, und wenn es das Letzte war, das er tat. Aber für alle Fälle musste er das Teil verbergen. Vorübergehend, es sollte nicht dauerhaft unauffindbar bleiben.

      Jetzt ergriff er die Chance und hoffte, dass sein nächtlicher Tauchgang unbemerkt blieb oder zumindest keinen Verdacht weckte – immerhin tauchten sie oft nachts, des Experiments wegen. Im Dunkeln war die Aufmerksamkeit nunmehr geschärft, die Auswirkung der Signale intensiver.

      Das Experiment! Die Veränderungen waren offensichtlich, nicht nur bei ihm selbst. Er konnte niemandem trauen. Den anderen Aquanauten im Unterwasser-Habitat schon gar nicht. Würde irgendetwas dazwischenkommen, man ihn durchschauen und aus dem Weg schaffen oder er plötzlich seine Meinung ändern – er wusste ja selbst nicht mehr, was er glauben sollte und was tun – dann wäre das Ding hier gut aufgehoben. So lange, bis er Klarheit darüber haben würde, welche Auswirkungen das Projekt hatte. Und Klarheit über sich, darüber, wofür er wirklich stand. Oder eben so lange, bis die Zeit reif war, um rückblickend zu verstehen. Dann, eines Tages, wenn die Dinge bereits ihren Lauf genommen hatten, schon eine lange Zeit, und wenn die Menschen Antworten suchen und sich Hilfe wünschen würden, dann würde dieses Teil so etwas wie ein Erbe sein, sein Erbe. Ein Vermächtnis, das er ihnen hinterlassen würde.

      Um zu erkennen. Um zu verstehen.

      Gegenwart

      Mallorca

      »Was ist nur los mit den Leuten!« Natascha zerrte an den Schultergurten und windete sich wütend aus ihrem Jacket. Energisch fixierte sie ihre Ausrüstung an der Reling und drehte das Flaschenventil zu.

      »Beruhige dich!« Sanft legte Jennifer eine Hand auf ihren Oberarm.

      »Ach, ist doch wahr!« Nataschas flammender Blick traf die drei Männer, die ihr vor ein paar Minuten den Abschlusstauchgang versaut hatten. Jennifers Gelassenheit machte Natascha nur noch wütender.

      »Das ist es doch gar nicht wert. Jetzt komm runter, und nachher an der Basis reden wir mal mit denen. So geht’s nicht, und hier bei uns schon gar nicht, Stammgäste hin oder her… Keine Ahnung, was mit denen los war. So kenne ich die gar nicht, und die kommen schon seit Jahren zu uns.« Jennifer legte die Stirn in Falten.

      »Hast ja recht. Aber alles war so perfekt! Und dann das…«

      In einem Moment absoluter Entspannung hatte Natascha zehn Minuten zuvor das Sonnenlichtspektakel am Riff genossen. Es war atemberaubend. Wie in einer Lasershow brach das Licht durch türkisblaues Wasser, unzählige Strahlen tanzten dabei über das Riff und verloren sich weiter unten im Blau, als würden sie in einer anderen Welt verschwinden, nachdem sie die Szenerie in ein surreales Reich verzaubert hatten, das Natascha alles um sich herum vergessen ließ. Wie sie diese Momente liebte, wenn sie ganz im Hier und Jetzt eintauchte, eins mit sich, keine Gedanken an das, was gewesen war, keine Sorgen und Ängste um die Zukunft, die Alltagssorgen vergessen und die Probleme für eine kurze Zeit in der Tiefe der See versenkt. Unter Wasser schaltete Natascha ab. Völlig. Tauchen entspannte sie. Immer. Und in Augenblicken wie diesen war Natascha nicht einfach nur entspannt – sie war tiefenentspannt im doppelten Sinne des Wortes »Tiefe«.

      Zum Ende des Tauchgangs schwebte Natascha etwa fünf Meter unter der Wasseroberfläche, um vor dem Auftauchen den Sicherheitsstopp zu absolvieren. Die für jene Stopps empfohlenen drei bis fünf Minuten waren längst abgelaufen, aber Jennifer drängte sie nicht, den Tauchgang zu beenden. Wie schön, wenn man den anderen so gut kannte und sich ohne Worte verstand wie sie und Jennifer seit nunmehr zwanzig Jahren. Immer kostete Natascha die letzten Minuten aus, so gut und so lang es eben ging, und die letzten Minuten jenes Tauchgangs, der gleichzeitig der letzte ihres Urlaubs war, erst recht. Wenn möglich, wollte sie als letzte der Gruppe auftauchen, zumal das Licht heute die faszinierende Stimmung hier unten, die Gelöstheit im puren Sein und die Farben von Flora und Fauna so perfekt unterstrich. Wie immer packte sie nochmals jede Emotion und Faszination der Zeit unter Wasser in diesen kurzen Moment, zog nochmals mit jedem Atemzug die Atmosphäre, die Schönheit und das Glück des Augenblickes in sich auf, um dann wie gewohnt, so hatte sie es zumindest vorgehabt, die letzten fünf Meter im Zeitlupentempo nach oben zu tauchen und dabei in die Tiefe zu blicken und sich vom Meer und seinen Bewohnern zu verabschieden. An der Oberfläche angelangt, wollte sie dann ohnehin nach unten schauen, um dieses Gefühl der Glückseligkeit beim Durchbrechen der Wasseroberfläche mit an die Luft zu bringen und es in den grauen Alltag mitzunehmen und zu Hause, so lange es eben ging, von diesen Momenten zu zehren.

      Doch daraus war diesmal nichts geworden! Verdorben – nein, gestohlen hatte man ihr diesen Augenblick!

      »Wegen dieser drei Ignoranten da drüben… echt ärgerlich!«

      »Ich weiß.« Jennifers Stimme strahlte die gewohnte Ruhe aus.

      Wo nahm ihre Freundin nur diese Gelassenheit her?! Nicht, dass Jennifer nie wütend war, aber sie hatte sich immer unter Kontrolle und rastete nie aus. Bewundernswert, aber manchmal auch beängstigend, und zwar immer dann, wenn Nataschas Temperament sich mal wieder zügellos den Weg bahnte und alles beherrschte – leider meist auch ihre Zunge. Wie schnell sie aus der Haut fahren konnte, in letzter Zeit jedenfalls… Natascha nahm dieses Aufbrausen überhaupt erst seit Kurzem bei sich wahr. War sie früher auch so schnell auf hundertachtzig gewesen? In letzter Zeit war sie das oft, privat und im Job. Sie hatte ja auch allen Grund dazu, und das schon eine ganze Weile. Nicht zuletzt wegen ihrer zunehmenden Unausgeglichenheit hatte sie sich auf diesen Urlaub so gefreut, darauf, vielleicht hier ihrer inneren Balance wieder ein kleines Stück näherzukommen. Umso ärgerlicher, dass ihr diese Chaoten den schönen Augenblick vorhin verbockt und ihr das ultimative Abschlusserlebnis ihres Urlaubs zunichtegemacht hatten! Eine knappe Woche auf Mallorca war offensichtlich zu wenig…

      »Solche Deppen, echt! Was ist bloß in die gefahren! Das gibt’s doch nicht! Unfassbar!« Sie senkte die Stimme, hatte sie doch bereits die Aufmerksamkeit anderer Taucher an Bord auf sich gezogen.