Thomas Röper

SPIEGLEIN politisches Jahrbuch 2020


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vorher in der EU, dann könnten andere diesem Beispiel folgen. Und das will Brüssel um jeden Preis verhindern. Ich kann kaum glauben, dass die Briten die Hoffnung auf ein Abkommen hatten.

      Dabei muss man keineswegs in der EU sein, um in Wohlstand und Freiheit zu leben. Die reichsten Länder, die nach verschiedensten Umfragen den höchsten Lebensstandard und die zufriedensten Bevölkerungen haben, sind die Schweiz und Norwegen. Beide sind nicht in der EU. Trotzdem haben beide zahlreiche Kooperationsverträge mit der EU geschlossen, und das wäre mit etwas gutem Willen auch mit Großbritannien möglich gewesen. Das Problem: Die EU hatte keinen guten Willen, sie hat stattdessen ein Motiv, den Brexit zu einem abschreckenden Beispiel für alle zu machen, die ebenfalls mit dem Gedanken spielen, die EU zu verlassen.

      Die Problematik bei den Briten ist natürlich kompliziert, vor allem in Bezug auf Nordirland. Aber wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.

      Die EU ist in keinem Punkt auf die Briten zugegangen, sondern hat von Anfang an gesagt, was alles für sie nicht verhandelbar ist. Und das war so ziemlich alles. So wurden alle britischen Vorschläge abgelehnt, wobei man fairerweise sagen muss, dass viele der britischen Vorschläge auch nicht eben hilfreich waren. Es saßen sich zwei Partner gegenüber, die von ihren Maximalforderungen nicht abrücken wollten. Aber auch vernünftige Vorschläge der Briten wurden zurückgewiesen.

      Hätte die EU ihre Verhandlungen mit der Schweiz oder Norwegen in einem Tonfall geführt wie jetzt mit Großbritannien, diese beiden Länder hätten bis heute keine Verträge mit der EU. Aber wie gesagt, Länder an die EU zu binden ist ein Ziel von Brüssel, und deshalb spricht man mit derartigen Kandidaten höflich, mit Austrittskandidaten hingegen am liebsten gar nicht.

      Daher war und ist der harte Brexit – wenn es ihn denn unbedingt geben soll – für die EU in meinen Augen das Ziel, trotz aller Lippenbekenntnisse aus Brüssel. Denn ein für England erfolgreicher Brexit würde andere Länder ermutigen, das Gleiche zu versuchen.

      Mit anderen Worten: Die EU wird nicht einknicken, auch wenn es sie selbst hart trifft, Hauptsache, es trifft die Briten noch härter.

      Wie war das mit den westlichen Werten? Also zum Beispiel die Anerkennung des demokratischen Willens der Mehrheit beim Brexit-Referendum? Fehlanzeige. Solidarität mit langjährigen (Nato-)Partnern? Keine Spur.

      Wer solche Freunde hat, der braucht keine Feinde mehr, das wird sich Theresa May wahrscheinlich öfter gedacht haben.

      Wie das gehen soll, blieb sein Geheimnis, denn man muss sich ein großes Militär auch leisten können. Beim BIP (PPP) steht Großbritannien aber nur auf Platz 9 in der Welt und beim Militärhaushalt auf Platz 7, sogar hinter seiner ehemaligen Kolonie Indien.

      Mehr noch: Durch den Brexit wird Großbritannien alle Hände voll zu tun haben, nicht auf England zusammenzuschrumpfen, denn beim harten Brexit wird es wieder Unabhängigkeitsbestrebungen in Nordirland geben, was ein Wiederaufflammen des Bürgerkrieges dort möglich macht. Und auch Schottland will in der EU bleiben und könnte ein neues Referendum zu seiner Unabhängigkeit fordern.

      Ende März hatte das britische Parlament zum dritten Mal über das Brexit-Abkommen abgestimmt. Weniger als zwei Wochen blieben bis zum fatalen Datum, dem 12. April, den die EU als Ultimatum gesetzt hatte.

      Der Hintergrund war, dass die Europawahlen anstanden, es juristisch heikel war und dass Großbritannien an den Wahlen nicht teilnehmen wollte. Daher war der 12. April das Datum, an dem London entweder doch an der Wahl teilnimmt oder die EU verlassen sollte.

      Premierministerin Theresa May versuchte verzweifelt, mit Brüssel ein Abkommen zu finden, das in London im Parlament mehrheitsfähig gewesen wäre. Doch sie biss auf Granit.

      Da das britische Parlament gegen das vereinbarte Abkommen und gegen den Austritt ohne Abkommen ist, wurde nach einem dritten Weg gesucht. Nur welchen?

      Im Gespräch waren Parlaments-Neuwahlen oder die Ankündigung eines neuen Referendums.

      Am 29. März schied Großbritannien trotz der Ankündigung, die Premierministerin Teresa May 2017 freiwillig verkündet hatte, nicht aus der Europäischen Union aus. Stattdessen wurde im Unterhaus eine weitere Abstimmung über die Bedingungen für einen Austritt aus der EU abgehalten, die Theresa May krachend verlor.

      Zum dritten Mal war die Regierung zu diesem Zeitpunkt bereits mit ihrem Abkommen zum Brexit gescheitert. Das britische Parlament stand damit vor der Wahl: Entweder die EU ohne Einigung zu verlassen oder eine weitere Verschiebung zu fordern.

      Der Chef des Europäischen Rates Donald Tusk hatte erklärt, dass die Bedingung für eine weitere Verschiebung des Brexit die Teilnahme Großbritanniens an den Wahlen zum Europäischen Parlament sei, was de facto eigentlich den Abschied vom Brexit bedeutet hätte, weil die Abgeordneten für fünf Jahre gewählt werden.

      Man entschied sich einmal wieder für eine Verlängerung und für die britische Teilnahme an der Wahl.

      Und so ging es durch das Jahr. May verlor ihren Posten und Boris Johnson folgte ihr als Premierminister nach. Aber auch er wurde im Oktober gezwungen, eine weitere Verlängerung bei der EU zu erbitten, weil das Parlament in London sich nicht einigen konnte. Die Neuwahlen, die Boris Johnson schließlich erzwungen hatte, wurden von der Opposition zu einem neuen „Brexit-Referendum“ verklärt. Die Strategie ging gründlich in die Hose.

      Die Ergebnisse der vorgezogenen Parlamentswahlen im Vereinigten Königreich haben viele verblüfft. Auffällig war, wie sehr sich das Ergebnis der Wahl von dem unterschied, was zuvor auf den Straßen los war. Allenthalben gab es Demonstrationen gegen den Brexit, und man konnte den Eindruck gewinnen, dass die Briten gegen den Brexit seien.

      Aber es zeigte sich einmal wieder, dass die lauten Massen auf den Straßen keineswegs automatisch die Mehrheit stellen.

      Der amtierende Premierminister Boris Johnson riskierte mit der vorgezogenen Wahl viel – und gewann. Er gewann vernichtend. Man benötigt mindestens 326 Sitze im Unterhaus, um eine Regierung zu bilden, und die Konservativen schafften es auf bis zu 370. Nur Margaret Thatcher gewann für die Tories ähnlich überzeugend, aber das war vor drei Jahrzehnten.

      Johnson hatte sofort angekündigt, die EU Ende Januar zu verlassen und keinen weiteren Aufschub mehr zu wollen.

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