welches an ein frisch bestelltes Rapsfeld anschließt. Schon von Weitem kann man sie sehen, diese kugelförmigen Wesen mit langen Beinen und Hälsen, nicht größer als 1,40 Meter. Scheinbar gleichgültig beobachtet uns der Hahn beim Näherkommen, seine Küken picken derweil ungerührt und emsig Rapssamen aus dem gelockerten Ackerboden. Von nun an werden sie einen konstanten Abstand von ca. 40 Metern zu uns halten, der Vater knufft beizeiten seine Brut auffordernd in die Seite, damit sie sich bewegen, behäbig fort, immer weg von uns.
Die bedächtige Wandergruppe umweht ein Hauch von Exotik, so gar nicht wollen sie in dieses gelernte Bild einer ursprungsdeutschen Landschaft passen. Zwischen 1999 und 2009 büxten immer wieder Nandus aus einem unzureichend gesicherten Wildgehege in Groß Grönau aus, insgesamt sieben. Als hätten sie gewusst, dass ihr Paradies auf der anderen Seite ist, schwammen sie mutig durch die Wakenitz und kamen so über die schleswig-holsteinische Seite, nördlich vom Ratzeburger See bis ins zwölf Kilometer entfernte Biosphärenreservat Schaalsee-Elbe (das war übrigens schon vorher da) und machten sich schnell über die dortigen Äcker samt deren leckeren Rapssprossen und -blüten her. Die Aufregung war groß, Ranger, Tierschützer und Bauern zeigten sich irritiert. Was tun? Immerhin handelt es sich bei dieser Art des südamerikanischen Nandus um eine besonders schützenswerte Gattung des Washingtoner Schutzabkommens. Sie abzuschießen war also nicht drin, einfangen auch nicht: Mit einer Geschwindigkeit von 60 km/h bei der Flucht nahezu ein Ding der Unmöglichkeit, zudem sind da die starken Flügel, flugunfähig zwar, aber prima zum Verteidigen und für blitzschnelle Richtungswechsel hervorragend geeignet.
Natürliche Feinde haben sie keine in Deutschland, die gefiederten Mini-Strauße. Selten werden frisch geschlüpfte Küken von Füchsen verschleppt, manchmal knacken auch Wildschweine eines der 1000 Gramm schweren Eier. Sie sind die Einzigen, die mit ihren Hufen die harte Schale zertrümmern können, aber oft ist ihnen das viel zu mühselig, und in der Regel wacht der Hahn ohnehin dermaßen konzentriert über seiner Brut, dass der Begriff »Helikoptervater« durchaus zutrifft.
Aber der Winter würde es richten, so die ursprüngliche Annahme, mit den nasskalten deutschen Temperaturen und dem spät einsetzenden Frühling. Damit würden die ursprünglich aus Südamerika stammenden Nandus nicht zurechtkommen, das Problem würde sich sicher von selbst erledigen. Die Ranger winkten ab, die Bauern waren zuversichtlich. Und tatsächlich ist sie die einzige wirkliche Gefahr, diese dunkle deutsche Jahreszeit von Dezember bis Ende Januar, wenn noch nichts Frisches gedeiht und mögliches Futter vermodert oder ungenießbar verschüttet ist unter gefrorenen Schneedecken.
Doch es kam anders. Vielleicht raffte es tatsächlich ein paar wenige Nandus dahin, alle aber nicht. Im Gegenteil: Die scheinbar winterfesten Nandus fühlten sich zunehmend wohl, lebten sich ein, und schließlich erblickte 2001 mit 14 Küken die erste wilde, eingedeutschte Nandu-Generation das Licht dieser Welt. Ein Trick, so einfach wie genial, vom Genpool der Laufvögel ausgeheckt: Innerhalb weniger Jahre änderte sich die Brutbereitschaft von Oktober auf März. So konnte sichergestellt werden, dass für genügend Nahrung gesorgt war und die Küken direkt zu Sommeranfang geboren wurden, nicht wie unterhalb der Äquatorgrenze im Oktober. Von nun an sollte sich der Bestand von Jahr zu Jahr sprunghaft erhöhen, Anfang 2018 lag die Population bereits bei 300 Tieren.
Die Tierforscher rätselten, die Ranger zeigten sich besorgt, die Bauern schlugen die Hände über dem Kopf zusammen: Die Fraßschäden der Rapsfelder, mitunter bis zu zehn Hektar bei einem Betrieb, konnten nicht als Ertragseinbuße geltend gemacht werden; diese gilt ausschließlich für Rotwild oder Wetterschäden. Die mecklenburgische Wildnis, vereinnahmt von einer südamerikanischen Schar sich reproduzierender, hungriger, nicht abschiebbarer Laufvögel – wo sollte das noch hinführen?
So wurde im Mai 2018 örtlichen Bauern erstmals die Genehmigung erteilt, frisch gelegte Nandu-Eier anzubohren, um dem Kükenboom Einhalt zu gebieten. Das Zeitfenster für solch eine Operation ist mit 15 Tagen nach Eiablage kurz, es reichte aber aus, um 190 der 238 Eier manipulieren zu können. Sehr zur Freude des Kolkraben übrigens, der von der lecker-modrigen Eisuppe angelockt nun das Gelege des Nandu-Hahnes drangsalierte. Woraufhin diverse Hähne ihre Gelege aufgaben und sich umgehend auf die Suche nach nochmals willigen Hennen machten, um eine erfolgversprechendere Nachbrut zu produzieren. Dumm gelaufen für die Geburtenkontrolle.
Einen weiteren Versuch der Ranger, die Poren der Eier in einer Mischung aus Paraffin und Kalk zu verschließen, zeigte nachhaltigere Erfolge: Die Hähne brüteten bis zum Ende der Brutzeit, der Hahn saß bis zuletzt auf »tauben Eiern« und als er das bemerkte, blieb ihm nichts anderes übrig, als auf die nächste Brutsaison zu warten. Die Population konnte mit dieser Maßnahme erstmals gleichbleibend groß gehalten werden; ob sich eine der Maßnahmen etabliert, bleibt noch abzuwarten.
Übrigens ist es Ihnen, lieber aufmerksamer Leser, sicherlich nicht entgangen: Bei den Nandus sind ausschließlich die Herren für den Nachwuchs zuständig, angefangen von der siebenwöchigen Brutzeit bis zur sechsmonatigen Aufzucht nach dem Schlüpfen.
Und da ein Eigelege mit durchschnittlich 42 bis 50 Eiern nicht ganz ohne ist, haben die Hähne oft auch einen pflichtbewussten Assistenten an der Hand. Dieser hält die Eier warm, wenn den Hahnenpapa einmal ein Grundbedürfnis drückt oder er sich stärken muss. Er hilft übrigens auch schon bei der Balz, indem er die begehrenswerten Damen liebenswert in die Mitte treibt und in die Seite knufft, begleitet von den namensgebenden »Nan-Du Nan-Du!«-Rufen, um sie auf die bevorstehende Paarung einzustimmen.
Ein traditionelles Familienleben findet bei den Nandus als solches also nicht statt; bei dieser Tiergattung gehört es zum guten Ton, dass sich die Hennen aus dem Staub machen, sobald sie ihre Eier für den Hahn gelegt haben. Oft werden danach noch ein bis zwei weitere Nandumänner beglückt. Die Eiablage erfolgt übrigens nicht im kuschelig eingerichteten Gelege, sondern rundherum: Der Hahn schubst die Eier mit seinem Schnabel ins Nest. Manche Eier werden dabei vergessen, passen nicht mehr ins Gelege oder werden schlichtweg zu weit weg abgelegt. Diese oft angeknacksten Exemplare sorgen dann für einen reichen Insektenansturm, der wiederum eine hervorragende Eiweißquelle für den brütenden Hahnenpapa bietet, damit er nie zu weit vom Gelege entfernt auf Nahrungssuche gehen muss.
Womit wir auch schon bei der Nahrung sind: Im Winter ernähren sich die Nandus hierzulande gern von Maiskörnern, Ackerfrüchten, Beeren und Nüssen. Im Sommer kommen neben den beliebten Rapsblüten und -sprossen auch Zuckerrüben und die eben erwähnten kleinen Insekten hinzu: Als lebenswichtige Eiweißquelle sind sie vor allen Dingen für die Nandu-Küken unverzichtbar. Die Essensbeschaffung selbst gleicht derweil einer Choreografie: Der Nandupapa läuft durch eine Wiese und scheucht mit seinem Getrampel die kleinen, im Gras sitzenden Insekten auf, rechts und links von ihm flankiert durch seine Kükenkinder, die mit ihrem weit geöffneten Schnabel alles einfangen, was da aus den Tiefen der Wiese heraufgekreucht und -gefleucht kommt. Leider landet auch hin und wieder eine seltene Insektenart wie die Blauflügelige Ödlandschrecke im hungrigen Schlund des Nachwuchses, weswegen der Nandu trotz Schutzabkommen auf der Liste der potenziell invasiven Arten gelandet ist. Ob er wirklich schädlich für die heimische Tierwelt ist und sich der Bestand an seltenen Insekten durch ihn gefährlich dezimiert, muss sich noch herausstellen.
Mehr als zehn Jahre leben die kleinen Laufvögel nun schon in der Freiheit und haben sich mit über drei Generationen in der Wildnis erfolgreich reproduziert. Somit gelten sie als Neozoen, also eine vom Menschen eingeschleppte Tierart, die sich eigenständig fortgepflanzt und angesiedelt hat.
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