dann wärst du ja endlich aus dem Schneider!«
»O Gott!« sagte Juliane und schob die Schale mit dem Gebäck näher hin zu Annegret, »du und deine Ahnungen! Sie hat doch Mieter drin.«
»Denen kann man kündigen.«
»Ach – ach…«, machte Juliane, und doch war die Möglichkeit gar nicht so abwegig.
»Wenn es so sein sollte«, sprach Annegret weiter, »würdest du dann nach Hamburg ziehen?«
Juliane brauchte nicht darüber nachzudenken. »Warum nicht?«
»Hm«, Annegret betrachtete die Freundin, »weißt du, daß ich auch schon lange die Absicht hatte, in eine Großstadt überzusiedeln?«
»Ja? Wirklich? Das wußte ich ja gar nicht!«
»Doch, es ist so. Denn hier, in diesem Kaff, sind ja alle heiratsfähigen Männer bereits unter der Haube!«
Juliane legte den Kopf schräg, wie immer, wenn sie etwas bezweifelte.
»Ich denke, du willst Junggesellin bleiben.«
»Im Vertrauen: Das sage ich immer nur wegen des Mangels an Gelegenheit!«
»Im Ernst?«
»Nicht ganz.«
»Also, was nun?«
Annegret schob die Beine von der Couch, stellte die Füße nebeneinander auf den Boden und betrachtete sie eingehend.
»Ich…«, sagte sie dann gespielt düster, »warte immer noch auf die große Liebe. Und sie kommt und kommt nicht! Also scheint sie hier nicht zu sein, deshalb werde ich mich entschließen, sie anderswo zu suchen!«
»Du hast dich aber noch nicht entschlossen?«
»Es hängt von Großmutter Barlach ab…«, lachte Annegret und griff nach dem Sektglas. Ihre Augen jedoch, sah Juliane, waren ganz ernst.
*
Großmutter Barlach mußte den Brief wirklich noch sofort nach dem Telefongespräch geschrieben haben, denn er war bereits am nächsten Tag bei ihr im Briefkasten.
Juliane las ihn, einmal und noch einmal. Dann ließ sie sich in einen Sessel fallen und starrte, den Kopf in den Nacken gelegt, die Decke an, die auch mal wieder getüncht werden mußte.
Großmutter wollte ihr tatsächlich das Haus vermachen.
Und zwar jetzt schon! Sie sollte mit den Kindern kommen und ihren zukünftigen Besitz bewohnen, damit sie auch noch etwas davon habe, denn, so schrieb Großmutter, sie habe die Absicht, wenn nicht hundert, so doch wenigstens neunzig Jahre alt zu werden, und dann wäre sie – Juliane – bereits fünfzig, die Kinder groß und – und – und… Vor Julianes zur Decke gerichteten Augen tauchte das Haus auf, hell und geduckt mit seinen eineinhalb Stockwerken und den gevierteilten Fenstern, mit dem Garten, dem großen Birnbaum, der Bank darunter, unter der Joachim ihr…
Sie stand auf, das Haus zerfloß und die Erinnerung an Joachim mit ihm.
Juliane ging zum Kühlschrank, fand noch einen kleinen Rest eines klaren Schnapses, goß ihn sich ein und trank ihn. Er brandete gegen ihre Magenwände, brannte kurz und wärmte dann, um gleich darauf Ruhe und Wohlbehagen in den ganzen Körper strömen zu lassen.
Sie wanderte an der Schrankwand entlang, auf der Suche nach Zigaretten, die sie, die Gelegenheitsraucherin, immer zu kaufen vergaß.
»Aha!« sagte sie laut, denn sie hatte ein angefangenes Päckchen gefunden. Als die Zigarette brannte, die erste Rauchwolke gegen die renovierungsbedürftige Zimmerdecke gezogen war, setzte sie sich wieder, nahm den Brief von Großmutter und las ihn ein drittes Mal.
Als sie den Blick hob, geriet ihr Joachims Bild ins Auge. Langsam stand sie auf, stellte sich davor und sah es, ohne es anzuheben, an. Sie sah es sehr lange und suchend an, ohne zu wissen, was eigentlich sie suchte. Dann wußte sie es, sie suchte nach Ähnlichkeiten Joachims mit den Kindern, oder umgekehrt. Sonderbar, daß sie keine fand…
»… und im Grunde«, hatte Joachim beim Abschied gesagt, »sind es ja auch deine Kinder und nicht meine!«
Er hatte nie eine Bindung an sie gehabt, oder doch? Recht hatte er allerdings gehabt, denn sie war es gewesen, die Kinder haben wollte, sofort, und auch nicht nur eines. So hatte sie sie bekommen, erst Achim, der jetzt zehn war, dann Susan, die jetzt neun und dann Tanja, die jetzt acht Jahre alt war.
Tanja war noch ein Baby gewesen, als Joachim sie verließ, regelrecht fortlief vor dem, wie er es nannte, »ständigen Kindergeschrei« und dem ewigen Windelgeruch.
In stillen, ganz objektiven Augenblicken hatte Juliane sich gefragt, ob Joachim sie überhaupt jemals wirklich geliebt hatte oder sie nur wegen ihren kleinen Vermögens geheiratet hatte. Sie hatten zusammen in einer Werbe-Agentur gearbeitet, sie im Büro und Joachim in der spöttisch »kreativen Abteilung« genannten Etage. Er hatte ihr Vermögen dazu benutzt, sich selbständig zu machen, was nicht gutging, denn er unterschätzte die Realitäten eines nur zum Teil künstlerischen Berufes.
Als er ging, saß Juliane mit einem winzigen Rest besagten Vermögens da. Und sie hatte diesen kleinen Rest auch noch deshalb, weil es festangelegtes Geld gewesen war.
Auf das Angebot, vor den Kindern den Schein einer Ehe so lange aufrechtzuerhalten, bis sie groß genug waren, ging Joachim sofort und bereitwillig ein. Aber – das wußte Juliane jetzt oder glaubte sie zumindest zu wissen – er hätte in alles eingewilligt damals, wenn sie ihn nur gehen ließe. Und sie hatte ihn gehen lassen.
Reisende soll man nicht aufhalten.
Die Kinder, dachte Juliane und spürte eine leise Müdigkeit, bedeuteten ihm nichts. Und er – er bedeutete ihnen auch nichts. Sie waren einander fremd geblieben.
Kunststück!
Sie sahen sich einmal im Jahr, und Joachim unternahm nicht den geringsten Versuch, auf die Kinder einzugehen.
»Vielleicht…«, fragte Juliane sich selbst laut, »kann er es gar nicht…«
Die Kinder begegneten ihm bei diesem meist einwöchigen, jährlichen Besuch mit einer Reserviertheit, die ihrer sonstigen Art vollkommen zuwiderlief. Im letzten Jahr hatte sie beobachtet, wie Achim, damals neunjährig, seinen Vater mit runden, ernsten Augen angesehen hatte. Nein, nicht angesehen! Er hatte ihn betrachtet, fixiert und sich dann abgedreht, wie resignierend.
Zehn…
Vielleicht, Julianes Herz zog sich schmerzhaft zusammen, ahnte er schon etwas? Er war so – so gescheit schon für sein Alter, so verständig. Und deshalb war es doch eigentlich sonderbar, daß er niemals Fragen stellte. Wieder einmal schob Juliane diese Überlegungen beiseite.
Sie ging zum Telefon.
Erst rief sie Großmutter Barlach an und pfiff auf deren zwischendurch immer wieder gemachten Ermahnungen, ob sie auch daran dächte, wie teuer dieses Gespräch würde!
Jedenfalls ließ sie nach gut zehn Minuten eine glückliche, alte Frau in Hamburg an ihrem Telefon sitzen.
Dann rief sie Annegret an, die ihr zuhörte und dann lediglich: »Na, siehste!« sagte.
Juliane lachte leise und fühlte, wie sich langsam ein Glücksgefühl in ihr sammelte, ein kleines warmes noch, doch es würde sich vergrößern, wenn sie mit den Kindern erst »zu Hause« war.
»Wann soll es losgehen?« erkundigte Annegret sich. »Sobald die Kinder zu Hause sind.«
»Prima, dann suche ich mir jetzt auch mal einen Job in Hamburg! Du…«
»Ja?«
»Ich freue mich für euch!«
»Ich mich auch…«, sagte Juliane nach einem tiefen Seufzer, der mehr sagte als hundert oder sogar tausend Worte. Sie hatte nicht gewußt, daß sie ihre Sehnsucht zurückgehalten hatte, spürte es erst jetzt, wo sie imstande war, ihr endlich, endlich freien Lauf zu lassen.
Als sie aufgelegt