Er ist, wie ich meine, der Beste von allen – ein großzügiger, edel gesinnter Knabe, der geführt, doch nicht angetrieben werden muss und der ausnahmslos die Wahrheit spricht. Betrug scheint er zu verachten.« (Nun, das hörte man gern.) »Seine Schwester Mary Ann braucht etwas Aufsicht«, fuhr sie fort, »obwohl sie im Großen und Ganzen ein sehr liebes Mädchen ist, aber ich möchte, dass sie so weit wie möglich aus dem Kinderzimmer ferngehalten wird, denn sie ist jetzt fast sechs und könnte die schlechten Angewohnheiten der Kindermädchen annehmen. Ich habe angeordnet, ihr Bett in Ihrem Zimmer aufzustellen, und wenn Sie so freundlich wären, sie beim Waschen und Anziehen zu beaufsichtigen und ihre Kleidung in Ordnung zu halten, braucht sie in Zukunft nichts mehr mit dem Mädchen zu tun zu haben.«
Ich erwiderte, dass ich das gern tun wolle, und im gleichen Augenblick betraten auch schon meine kleinen Schüler zusammen mit ihren beiden jüngeren Schwestern das Zimmer. Master Tom Bloomfield war ein hochaufgeschossener Knabe von sieben Jahren, mit drahtigem Körperbau, flachsblondem Haar, blauen Augen, einer kleinen Stupsnase und zartem Teint. Auch Mary Ann war groß, dunkelhaarig wie ihre Mutter, hatte aber ein rundes, volles Gesicht und hochrote Wangen. Die nächste Schwester war Fanny, ein sehr hübsches kleines Mädchen; Mrs. Bloomfield versicherte mir, dass sie ein besonders sanftes Kind sei und etwas Ermunterung brauche: Sie hätte bis jetzt noch gar nichts gelernt, würde aber in einigen Tagen vier Jahre alt und solle dann mit dem Lernen des Alphabets beginnen und mit den anderen ins Schulzimmer gehen. Blieb noch Harriet, ein kleines, rundes, fröhliches, verspieltes Ding von knapp zwei Jahren, zu dem es mich mehr als zu allen anderen hinzog – aber ausgerechnet mit ihr hatte ich nichts zu tun.
Ich sprach mit meinen kleinen Schülern, so gut ich konnte, und versuchte, mich liebenswürdig zu geben, aber, wie ich fürchte, ohne großen Erfolg, denn die Anwesenheit ihrer Mutter machte mich auf unangenehme Weise befangen. Ihnen dagegen ging jede Schüchternheit ab. Anscheinend waren es kecke, lebhafte Kinder, mit denen ich hoffentlich bald auf freundschaftlichem Fuße stehen würde, vor allem mit dem kleinen Jungen, von dessen vielversprechendem Charakter ich seine Mutter ja hatte sprechen hören. Mary Ann hatte ein gewisses affektiertes Lächeln und den ausgeprägten Wunsch nach Beachtung, was ich mit Bedauern registrierte. Aber ihr Bruder beanspruchte meine ganze Aufmerksamkeit für sich. Er stand, die Hände auf dem Rücken, kerzengerade zwischen mir und dem Kamin, plauderte unaufhörlich wie der größte Redner und unterbrach seinen Redefluss nur gelegentlich, um seinen Schwestern einen scharfen Tadel zu erteilen, wenn sie zu viel Lärm machten.
»O Tom, was für ein Schatz du bist!«, rief seine Mutter. »Komm her und gib deiner Mama einen Kuss. Und willst du dann nicht Miss Grey euer Schulzimmer und eure schönen, neuen Bücher zeigen?«
»Ich will dir keinen Kuss geben, Mama, aber ich will Miss Grey mein Schulzimmer und meine neuen Bücher zeigen.«
»Und mein Schulzimmer und meine neuen Bücher, Tom«, sagte Mary Ann. »Sie gehören genauso mir.«
»Sie gehören mir«, antwortete er entschieden. »Kommen Sie, Miss Grey, ich begleite Sie.«
Nachdem Schulzimmer und Bücher vorgeführt worden waren – nicht ohne Streitereien zwischen Bruder und Schwester, die beizulegen und zu schlichten ich mir die größte Mühe gab –, brachte mir Mary Ann ihre Puppe und begann, weitschweifig über deren vornehme Kleider, ihr Bett, ihre Kommode und sonstige Ausstaffierung zu schwatzen. Doch Tom hieß sie, den Mund zu halten, damit Miss Grey sich sein Schaukelpferd ansehen könne, das er unter großem Getöse von seinem Platz in der Ecke bis in die Mitte des Zimmers zog, wobei er mich mit lauter Stimme aufforderte, nun gut achtzugeben. Dann befahl er seiner Schwester, die Zügel zu halten, bestieg das Pferd und ließ mich volle zehn Minuten dastehen und zusehen, wie beherzt er mit Peitsche und Sporen umging. Während dieser Zeit bewunderte ich allerdings Mary Anns hübsche Puppe samt allem Zubehör; danach versicherte ich Mr. Tom, dass er ein ausgezeichneter Reiter wäre, aber hoffentlich Peitsche und Sporen bei einem echten Pony nicht so häufig einsetzen würde.
»Und ob ich das tue!«, sagte er und schlug mit noch größerem Eifer drauflos. »Ich werde es ihm geben wie der Teufel. Mein Wort drauf, der wird es spüren.«
Es war ganz abscheulich, aber ich hoffte, mit der Zeit eine Besserung bewirken zu können.
»Jetzt nehmen Sie Haube und Schal«, sagte der kleine Held, »und ich zeige Ihnen meinen Garten.«
»Und meinen«, sagte Mary Ann.
Tom hob mit drohender Gebärde seine Faust; sie stieß einen lauten, gellenden Schrei aus, lief auf meine andere Seite und schnitt ihm eine Grimasse.
»Du würdest deine Schwester doch wohl nicht schlagen, Tom! Ich hoffe, dass ich das nie sehen werde!«
»Das werden Sie aber manchmal: Ich bin gezwungen, es hin und wieder zu tun, um sie im Zaum zu halten.«
»Es ist aber nicht deine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie sich ordentlich benimmt, verstehst du, das ist –«
»Nun gehen Sie schon und setzen Sie Ihre Haube auf.«
»Ich weiß nicht – es ist so trüb und kalt, wahrscheinlich fängt es an zu regnen –, und du weißt ja, dass ich eine lange Fahrt hinter mir habe.«
»Das ist egal – Sie müssen mitkommen; ich dulde keine Ausreden«, gab der kleine Gentleman wichtigtuerisch zur Antwort. Und da es der erste Tag unserer Bekanntschaft war, dachte ich, es würde nichts schaden, ihm nachzugeben. Mary Ann der Kälte auszusetzen war zu riskant, und so blieb sie bei ihrer Mama, zur großen Erleichterung ihres Bruders, der mich ganz für sich haben wollte.
Der Garten war groß und geschmackvoll angelegt. Außer mehreren herrlichen Dahlien blühten noch einige andere schöne Blumen, aber mein Begleiter ließ mir keine Zeit, sie genauer anzusehen: Ich musste mit ihm über den nassen Rasen in einen entfernten, abgelegenen Winkel gehen, die wichtigste Stelle des ganzen Geländes; denn sie beherbergte seinen Garten. Dort gab es zwei Beete mit den unterschiedlichsten Pflanzen. In dem einen stand ein hübscher kleiner Rosenstock; ich blieb stehen, um seine lieblichen Blüten zu bewundern.
»Ach, kümmern Sie sich nicht darum!«, sagte er verächtlich. »Das ist nur Mary Anns Garten, schauen Sie, dies hier ist meiner.«
Nachdem ich jede einzelne Blume betrachtet und mir über jede Pflanze eine ausführliche Abhandlung angehört hatte, durfte ich gehen; zuvor aber pflückte er mit großer Geste eine Narzisse und überreichte sie mir, als würde er mir eine ungeheure Gunst erweisen. Ich bemerkte im Gras rings um seinen Garten gewisse Vorrichtungen aus Stöcken und Bindfäden und fragte, was das sei.
»Vogelfallen.«
»Warum fängst du die Vögel?«
»Papa sagt, sie sind schädlich.«
»Und was machst du mit ihnen, wenn du sie gefangen hast?«
»Das ist verschieden. Manchmal gebe ich sie der Katze, manchmal schneide ich sie mit meinem Taschenmesser in Stücke, aber den nächsten will ich bei lebendigem Leibe braten.«
»Und warum hast du etwas so Entsetzliches vor?«
»Aus zwei Gründen: Einmal will ich sehen, wie lange er lebt, und dann will ich wissen, wie er schmeckt.«
»Aber weißt du nicht, dass es sehr böse ist, so etwas zu tun? Merk dir: Vögel können genauso fühlen wie du, und überleg mal, wie dir das gefallen würde.«
»Ach, das macht nichts! Ich bin kein Vogel und kann auch nicht spüren, was ich mit ihnen mache.«
»Aber eines Tages wirst du es spüren, Tom: Du hast bestimmt schon gehört, wohin böse Menschen gehen müssen, wenn sie sterben, und wenn du nicht aufhörst, unschuldige Vögel zu quälen, vergiss nicht, dann musst auch du dorthin und das Gleiche erleiden, was sie deinetwegen erlitten haben.«
»Pah! Das werde ich nicht. Papa weiß, wie ich sie behandle, und schimpft niemals deswegen mit mir; er sagt, dass er als Junge dasselbe gemacht hat. Letzten Sommer hat er mir ein Nest mit jungen Spatzen gegeben und zugesehen, wie ich ihnen Beine, Flügel und Köpfe abgerissen habe, und er hat nichts dazu gesagt, nur dass es ekelhafte Biester