die sogleich die Herkunft des Namens Thornfield erklärten. In der Ferne erhoben sich Hügel, die zwar nicht so hoch waren wie die um Lowood und auch nicht in gleichem Maße wie eine Trennmauer gegen die Außenwelt wirkten, aber doch ruhig und einsam genug schienen, um Thornfield eine Abgeschiedenheit zu verleihen, wie ich sie so nahe der geschäftigen Stadt Millcote nicht vermutet hätte. An einem der Hänge lagen verstreut die Häuser eines kleinen Weilers, deren Dächer zwischen den Bäumen hervorlugten. Die Kirche dieser Gemeinde lag näher bei Thornfield; ihre alte Turmspitze ragte über einer Anhöhe zwischen Haus und Parktor empor.
Ich stand da, genoss den friedvollen Anblick und die wohltuende frische Luft, lauschte vergnügt dem Krächzen der Krähen, betrachtete immer wieder die ausladende graue Fassade des Hauses und dachte gerade, wie groß es doch für eine alleinstehende, zierliche Frau wie Mrs. Fairfax war, als diese an der Tür erschien.
»Was? Schon auf?«, sagte sie. »Ich sehe, Sie sind Frühaufsteherin.« Ich ging zu ihr und wurde mit einem Kuss und einem Händedruck freundlich begrüßt.
»Wie gefällt Ihnen Thornfield?«, fragte sie.
Ich antwortete, dass ich es sehr schön fände.
»Ja, es ist ein hübscher Ort«, fuhr sie fort, »aber ich fürchte, es wird allmählich verwahrlosen, wenn Mr. Rochester sich nicht endlich entschließt, auf Dauer hier zu wohnen – oder wenigstens öfters herzukommen. Große Häuser und schöne Besitzungen erfordern nun einmal die Anwesenheit des Eigentümers.«
»Mr. Rochester!«, rief ich. »Wer ist das?«
»Der Besitzer von Thornfield«, erwiderte sie ruhig. »Wussten Sie denn nicht, dass er Rochester heißt?«
Natürlich hatte ich es nicht gewusst: Ich hatte noch nie etwas von ihm gehört, doch die alte Dame schien seine Existenz für eine allgemein bekannte Tatsache zu halten, mit der jedermann unwillkürlich vertraut sein musste.
»Ich dachte, Thornfield gehöre Ihnen«, fuhr ich fort.
»Mir? Gott segne Sie, Kind, wie kommen Sie denn darauf? Mir? Ich bin nur die Wirtschafterin – die Verwalterin. Allerdings bin ich mütterlicherseits entfernt mit den Rochesters verwandt – oder vielmehr, mein Mann war es. Er war Geistlicher, Pfarrer von Hay – dem kleinen Dorf dort drüben auf dem Hügel –, und die Kirche da unten beim Tor, das war seine Kirche. Die Mutter des jetzigen Mr. Rochester war eine Fairfax und eine Kusine zweiten Grades meines Mannes. Aber ich bilde mir auf diese Verwandtschaft nichts ein – sie bedeutet mir eigentlich gar nichts. Ich betrachte mich als ganz gewöhnliche Wirtschafterin. Mein Arbeitgeber ist immer höflich zu mir, und mehr verlange ich nicht.«
»Und das kleine Mädchen – meine Schülerin?«
»Sie ist Mr. Rochesters Mündel. Er hat mich beauftragt, eine Hauslehrerin für sie zu suchen. Offenbar will er, dass sie hier aufwächst. Hier kommt sie, mit ihrer bonne, wie sie ihr Kindermädchen nennt.« Das Rätsel war also gelöst: diese freundliche, liebenswürdige kleine Witwe war keine vornehme Dame, sondern selbst eine Angestellte wie ich. Ich mochte sie deshalb nicht weniger, im Gegenteil, es war mir sogar lieber so. Zwischen ihr und mir bestand wirkliche Gleichheit, die nicht nur auf Herablassung ihrerseits beruhte. Umso besser, denn dadurch wurde ich in meiner Selbständigkeit gestärkt.
Während ich noch über diese Entdeckung nachdachte, kam ein kleines Mädchen, gefolgt von einer Begleiterin, über den Rasen auf uns zu gelaufen. Ich betrachtete meine neue Schülerin, die mich zunächst gar nicht zu bemerken schien. Sie war noch ein richtiges Kind – sieben oder acht Jahre alt vielleicht –, von zartem Körperbau, mit einem blassen, feinen Gesichtchen und vollem, lockigem Haar, das ihr bis zur Taille reichte.
»Guten Morgen, Miss Adela«, sagte Mrs. Fairfax. »Kommen Sie her und sagen Sie der Dame guten Tag, die Sie künftig unterrichten und eines Tages eine kluge Frau aus Ihnen machen wird.« Die Kleine kam näher.
»C’est là ma gouvernante?«, fragte sie ihr Kindermädchen und zeigte auf mich.
»Mais oui, certainement«, antwortete dieses.
»Sind sie Ausländerinnen?«, fragte ich, erstaunt, sie Französisch sprechen zu hören.
»Das Kindermädchen ist Ausländerin, und Adela ist auf dem Kontinent geboren, wo sie – so viel ich weiß – auch immer gelebt hat, bis sie Frankreich innerhalb der letzten sechs Monate verließ. Als sie hier ankam, sprach sie kein Wort Englisch; jetzt kann sie sich schon notdürftig verständlich machen. Ich verstehe sie zwar nicht, weil sie so viele französische Ausdrücke einflicht, aber Sie werden gewiss keine Mühe haben herauszufinden, was sie meint.«
Zum Glück war es mir vergönnt gewesen, von einer Französin in ihrer Muttersprache unterrichtet zu werden, und da ich es mir zum Prinzip gemacht hatte, mich so oft wie nur irgend möglich mit Madame Pierrot zu unterhalten, und zudem während der vergangenen sieben Jahre jeden Tag ein paar französische Sätze auswendig gelernt und mich dabei vor allem um eine richtige Intonation und eine möglichst genaue Nachahmung der Aussprache meiner Lehrerin bemüht hatte, konnte ich diese Sprache nun ziemlich flüssig und korrekt sprechen, so dass mich Mademoiselle Adela wohl kaum in Verlegenheit bringen würde. Als sie hörte, dass ich ihre Gouvernante sei, kam sie zu mir und reichte mir die Hand. Während ich mit ihr zum Frühstück hineinging, richtete ich ein paar Fragen in ihrer Muttersprache an sie. Zuerst antwortete sie nur kurz, doch als wir dann zu Tisch saßen und sie mich gute zehn Minuten lang mit ihren großen haselnussbraunen Augen prüfend angesehen hatte, plauderte sie plötzlich munter darauf los.
»Ach«, rief sie auf Französisch, »Sie sprechen meine Sprache genauso gut wie Mr. Rochester. Mit Ihnen kann ich mich unterhalten wie mit ihm, und Sophie auch. Sie wird sehr froh darüber sein, denn kein Mensch hier versteht sie. Madame Fairfax kann ja nur Englisch. Sophie ist mein Kindermädchen; sie ist mit mir übers Meer gekommen, in einem großen Schiff mit einem Schornstein, der rauchte – und wie der rauchte! Und ich war seekrank, und Sophie auch, und Mr. Rochester auch. Mr. Rochester hat sich auf ein Sofa in einem hübschen Raum gelegt, den man Salon nannte, und Sophie und ich hatten in einem anderen Zimmer winzige Betten. Ich wäre aus meinem beinahe herausgefallen, es war so schmal wie ein Brett. Und, Mademoiselle – wie heißen Sie eigentlich?«
»Eyre – Jane Eyre.«
»Aire? Bah, das kann ich nicht aussprechen. Also, am Morgen, noch bevor es richtig hell war, hielt unser Schiff in einer großen Stadt – in einer riesengroßen Stadt mit ganz dunklen Häusern, und alles war ganz rußig und ganz anders als die hübsche, saubere Stadt, aus der ich kam; und Mr. Rochester trug mich auf den Armen über einen Steg an Land, und Sophie folgte uns, und dann stiegen wir alle in eine Kutsche, die uns zu einem schönen, großen Haus brachte, viel größer und eleganter als dieses hier, das hieß Hotel. Dort sind wir fast eine Woche geblieben, und ich bin mit Sophie jeden Tag auf einem großen grünen Platz voller Bäume spazieren gegangen, den die Leute Park nannten, und dort gab es noch viele andere Kinder außer mir und einen Teich mit wunderschönen Vögeln, die ich mit Brotkrumen gefüttert habe.«
»Können Sie sie denn verstehen, wenn sie so schnell spricht?«, erkundigte sich Mrs. Fairfax.
Ich verstand sie ausgezeichnet, denn ich war an die flüssige Sprechweise von Madame Pierrot gewohnt.
»Könnten Sie ihr wohl ein paar Fragen über ihre Eltern stellen?«, fuhr die gute Frau fort. »Ich hätte gern gewusst, ob sie sich noch an sie erinnert.«
»Adèle«, wandte ich mich an das Kind, »bei wem hast du in der hübschen, sauberen Stadt gelebt, die du vorhin erwähnt hast?«
»Ganz früher war ich mit Mama zusammen; aber dann ist sie zur Heiligen Mutter Gottes gegangen. Mama hat mir Tanzen beigebracht und Singen und Verse-Aufsagen. Viele vornehme Damen und Herren haben Mama besucht, und ich habe vor ihnen getanzt oder auf ihrem Schoß gesessen und ihnen etwas vorgesungen. Das hat mir gefallen. Soll ich Ihnen jetzt etwas vorsingen?«
Da sie ihr Frühstück beendet hatte, erlaubte ich ihr, uns eine