Gisbert Haefs

ZWEITAUSENDVIERUNDACHTZIG


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      Rainer Schorm & Jörg Weigand (Hrsg.)

      ZWEITAUSENDVIERUNDACHTZIG

      Orwells Albtraum

      AndroSF 107

      Rainer Schorm & Jörg Weigand (Hrsg.)

      ZWEITAUSENDVIERUNDACHTZIG

      Orwells Albtraum

      AndroSF 107

      Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

      Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

      © dieser Ausgabe: Juni 2020

      p.machinery Michael Haitel

      Titelbild: Rainer Schorm

      Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

      Lektorat: Michael Haitel

      Herstellung: global:epropaganda

      Verlag: p.machinery Michael Haitel

      Norderweg 31, 25887 Winnert

      www.pmachinery.de

      für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

      ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 171 6

      ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 913 2

      Im Juni 1949 erschien George Orwells Roman »1984«.

      Das ist einundsiebzig Jahre her.

      Das Handlungsjahr 1984 ist sechsunddreißig Jahre her.

      2020 ist ein guter Zeitpunkt für dieses Buch.

      

      Vorwort

      Alles wird gut.

      Warum man Kindern heute noch diesen Bären aufbindet, ist schwer zu erklären. Am wahrscheinlichsten ist, dass es sich um eine simple Kompensation handelt – der Tatsache nämlich, dass dem eben gerade nicht so ist! Glaubt man dem Volksmund, dem man ansonsten eher misstrauen sollte, kommt nichts Besseres nach.

      Die Verwirrung ist spätestens hier umfassend und der Mensch, das prognostizierende Wesen, weiß einmal mehr nicht, was auf ihn zukommt. Prognose ist unserer Spezies eingebaut. Denkfähigkeit dürfte entstanden sein, um gute Lebensbedingungen vorhersagen zu können – und wahrscheinlich, seit es in der Evolution zur ersten Ausprägung von Sinnesorganen kam. Das ist nichts anderes, als aus Wahrnehmungs- und Empfindungsfakten abzuleiten, was jenseits davon liegen könnte: räumlich und zeitlich. Prognose eben!

      Die Literatur zeitlicher Prognose ist die Science-Fiction; kombiniert man das mit den Eingangsbemerkungen, landet man wo? Genau: bei der Dystopie … dem skeptischen, hässlichen, kleinen Bruder der Utopie.

      Little Brother – Big Brother.

      Orwells Dystopie ist die bekannteste, gerade, wenn man das Science-Fiction-Getto verlässt und in die Breite der Gesellschaft geht. Ob jeder, der Orwell zitiert oder sich auf ihn beruft, ihn gelesen oder gar verstanden hat, darf gerne bezweifelt werden. Es ist auch definitiv nicht die schlimmste aller Dystopien, sondern vielleicht diejenige, die dem simplen Gemüt am eingängigsten ist. Den Herausgebern fallen einige andere ein, viele darunter sehr viel bedrohlicher und ihrer scheinbaren Heimeligkeit wegen sehr viel heimtückischer: Aldous Huxleys »Schöne neue Welt« etwa. Aber es gibt weitere: Ray Bradburys »Fahrenheit 451«, E. M. Forsters »Die Maschine steht still«, Jevgenij Samjatins »Wir« oder Harry Harrisons »New York 1999«.

      Als ob das nicht bereits schlimm genug wäre – es sieht so aus, als ob die Dystopien recht behielten. Die Utopien, sozialistisch oder anders geprägt, sind brachial gescheitert, der Versuch, einen neuen Menschen zu erziehen ebenso. Das Rollback etwa hin zu nationalistischen Traditionen beweist leider, dass die Annahme, die soziale Entwicklung habe die biologische abgelöst, falsch ist. Die Schönwetterideologien, die sich heute im Konsumismus festgesaugt haben, wirken in ihrer Armseligkeit mitleiderregend. Die Vorstellungen basieren auf einem verzerrten Nachhall der Geist-Körper-Trennung; traditionell, aber längst überholt. Der Mensch als Gegenpol zur Natur, Soziologie als Gegenentwurf zur Evolution.

      Nach wie vor sieht sich der Mensch nicht als integralen Teil der Natur, sondern, wenn schon nicht als Krone der Schöpfung, dann wenigstens als das größte anzunehmende Übel. Und der »Gutmensch«, selbst längst ein ideologischer Kampfbegriff, steht dagegen auf, um das Klima zu retten – vor dem Menschen selbstverständlich. Wobei es in der Regel sehr erheiternd ist, wenn man Verfechter dieser Weltanschauung fragt, was genau sie denn da retten wollen, oder gar wie. In einem hochdynamischen System wie dem Gesamtklima der Erde (ohnehin eine extreme Simplifizierung) einen speziell für uns angenehmen Zustand auf Dauer arretieren zu wollen, entspricht auf bizarre Weise wieder dem humanen Größenwahn.

      Nähme man den Ansatz ernst, müsste man den Menschen ausrotten. Zu glauben, dass man bald zehn Milliarden Individuen auf dem Planeten herumspazieren lassen kann, ohne Auswirkungen auf die Umwelt zu haben, ist an Naivität kaum noch zu überbieten. Zumal alle Menschen angeblich dasselbe Recht auf Wohlleben haben – Konsum eingeschlossen. Viel Spaß bei der Entwicklung von klimaneutralen Produkten, die das kompensieren …

      Abgesehen vom mitleiderregenden Scheitern am Begriff: Der Mensch sieht sich als seine eigene Dystopie und arbeitet hart daran, sie wahr werden zu lassen. China macht bereits die ersten Schritte: Genmanipulation am Menschen, wie die HIV-Immunität an Zwillingen, von He Jiankui an der Southern University of Science and Technology in Shenzhen mit der Gentechnik CRISPR erzeugt. Moral hin oder her, der erste Schritt ist getan. Wer glaubt ernsthaft, die ethischen Bedenken würden standhalten, sähe der Westen sich massenhaft mit gentechnisch optimierten Menschen aus Fernost (oder sonst wo) konfrontiert? Ohne Zweifel empfanden auch die alten Weber die Entwicklung des mechanischen Webstuhls als unfair. Die Entwicklung interessierte sich bereits damals nicht für Moral. Auch wenn Bertolt Brecht das sehr viel prägnanter formulierte.

      Noch einmal China: Das von der Partei geplante System digital kontrollierter Bürgerbonität wird für jeden Despoten eine Verlockung sein. Der Ameisenstaat ruft und die freien Bevölkerungen nutzen jede datenerhebende App, die sie bekommen können (und ja, über den aktuellen Freiheitsbegriff kann man mit gutem Recht diskutieren!).

      Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten? Leider ist es umgekehrt: Ohne Privatsphäre gibt es keine Freiheit. Wer alles offenlegt, sollte sich besser fürchten. Vor der Rückkehr der Tyrannei. Vor Demagogen. Vor Leuten, die einfache Lösungen versprechen. Und vor Leuten, die glauben, alles was ihr Nachbar tut, ginge sie etwas an. Oder müsse im Sinne einer »schönen, neuen Welt« geregelt werden.

      Kommt Ihnen das bekannt vor?

      Vor allem deshalb sollten Sie sich fürchten: weil sie es uns bequem machen wird, die neue Despotie. Smart Home, Industrie 4.0, autonomes Fahren. Big Data ist längst Realität. Nicht unbedingt big enough für viele, aber wir stehen schließlich erst am Anfang. Niemand kann die erhobenen Daten nutzen, weil wir es bürokratisch untersagt haben? Sie werden genutzt werden – mit Können oder Dürfen hat das so gut wie nichts zu tun.

      Die Erkenntnis, dass Freiheit nichts mit der Freiheit, alles Gewünschte konsumieren zu können, zu tun hat, ist in den meisten Köpfen noch lange nicht angekommen. Gerade China ist der beste Beweis dafür, dass die Erzeugung von Demokratie durch Handel nicht funktioniert. Die Entwicklungen haben begonnen. Nicht erst gestern. Wir sind bereits mittendrin.

      Die Autoren, die sich an dieser Anthologie beteiligt haben, kamen zum selben Schluss. Vielen ist offenbar bewusst, dass der eingeschlagene Weg seine Tücken haben wird. Nun mag die Titelwahl dieser Sammlung eine gewisse Ausrichtung nahegelegt haben – die eifrige Beteiligung spricht für eine empfundene Dringlichkeit.

      … nicht nur, den Anfängen