Gert Rothberg

Sophienlust Extra 13 – Familienroman


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      »Nein!« Marietta schüttelte den Kopf. »Tuck kommt nicht mehr zurück. Ihm gefällt es nicht in Sophienlust.« Jetzt drückte sich Marietta ganz fest an Pünktchen und versteckte ihr tränenüberströmtes Gesicht bei ihr. Dumpf und abgerissen kamen ihre nächsten Worte: »Er ist höher … immer höher … geklettert. Er hat gar nicht mehr auf mich gehört …« Marietta drehte sich um. In ihren Augen stand große Verzweiflung.

      »Komm!« Pünktchen nahm Mariettas Hand. »Wir gehen unter den Baum.« Sie zog das Kind über den Rasen, bis es selbst auf drei hohe dickkronige Eichen zustrebte.

      Jetzt hob Marietta die Hand. »Dieser Baum war es. Aber ich sehe Tuck nicht mehr. Jetzt ist er schon ganz fort. Tuck, Tuck!«, rief sie laut.

      Das lockte auch die anderen Kinder herbei. Bald liefen alle durch den Park und suchten die Bäume ab. Doch auf keinem konnten sie das zahme Eichhörnchen entdecken.

      Denise von Schoenecker stand am Fenster eines Zimmers im ersten Stock. Sie hatte beobachtet, was im Park passiert war. Doch sie traute sich nicht hinunter. Niemand konnte Marietta jetzt helfen. Denise war überzeugt, dass Tuck nicht zurückkehren würde. Vor Kurzem erst hatte ihr Schwiegersohn, der Tierarzt Dr. von Lehn, gesagt: »Einmal muss sich in diesem Eichhörnchen der Naturtrieb bemerkbar machen, auch wenn es nicht in der Freiheit der Natur aufgewachsen ist.«

      Nun schien es soweit zu sein. Resigniert dachte Denise von Schoenecker: Und das musste gerade auf Sophienlust passieren. Nun wird dem Kind der Aufenthalt hier noch mehr verleidet sein.

      An diesem Tag kam im Kinderheim niemand mehr zur Ruhe. Bis zum Abend suchten alle das Eichhörnchen Tuck. Selbst der alte Justus beteiligte sich an der Suche. Zwar wollte niemand glauben, dass ein Eichhörnchen auf das Rufen zurückkommen würde.

      Als es draußen dunkel war, saß das Mädchen zusammengekauert im Aufenthaltsraum. So seltsam manche Kinder Marietta bisher gefunden hatten, jetzt litten sie alle mit ihr. Wollte jemand Marietta einreden, Tuck könne ja morgen noch zurückkommen, schüttelte sie nur stumm den Kopf. Man sah ihr an, dass sie keine Hoffnung mehr hatte.

      Marietta behielt recht. Niemand sah das Eichhörnchen Tuck noch einmal im Park von Sophienlust. Es schien sich gleich in die große weite Welt hinausgewagt zu haben und dort seine Freiheit zu genießen.

      Pünktchen schimpfte erbost: »So undankbar kann auch nur ein Tier sein. Hat es Tuck bei Marietta nicht schöner gehabt als draußen? Vor allem auch im Winter? Was meint ihr, wie da die Eichhörnchen manchmal hungern müssen, wenn sie nicht genug Vorrat haben. Und manche sind auch noch so dumm, zu vergessen, wo sie ihre Nüsse, Bucheckern und Eicheln versteckt haben. Ja, das könnt ihr glauben. Das haben wir in der Schule gelernt. Es kann aber auch so viel Schnee geben, dass die Eichhörnchen nicht mehr an ihre Vorräte herankommen. Das alles wäre Tuck erspart geblieben. Aber nein, er muss ausreißen.«

      Dominik blinzelte Pünktchen zu. »Vielleicht, weil er nicht ganz so gescheit ist wie du, Pünktchen.«

      Pünktchen war erbost. Aus dem Herzen heraus und weil sie sich mit Dominik gern bis zum Streit neckte, sagte sie: »Du kannst dich leicht lustig machen. Du hast ein Pferd, das dir nicht abhaut. Die Ponys und Hunde hauen auch nicht ab. Versuch halt erst mal, ein Eichhörnchen zu zähmen.«

      »Siehst du, Pünktchen, das ist es ja! So etwas versucht man erst gar nicht. Nick tat überheblich. »Eichhörnchen sind keine Haustiere. Das hat sich eben wieder einmal bewiesen. Und als Wunder sollte man es auch nicht ansehen, wenn es einmal gelingt, so ein kleines junges Ding für einige Zeit an einen Menschen zu gewöhnen. Der Naturtrieb und der Instinkt treiben es dann doch wieder in die Freiheit zurück.«

      Pünktchen fegte mit der Hand durch die Luft. »Behalte deine Weisheiten für dich, Nick. Damit hilfst du uns nicht. Außerdem stammen die doch nur von deinem Schwager, dem Herrn Tierarzt. Lass uns Mädchen jetzt allein. Wir müssen beraten, wie wir Marietta helfen können.«

      Nick ging zur Tür. Was blieb ihm auch anderes übrig, wenn die Mädchen ihn fortschickten? »Als ob bei euren großen Sitzungen schon einmal etwas herausgekommen wäre«, rief er erbost, als er bei der Tür angekommen war.

      »Einmal wird etwas dabei herauskommen«, gab Vicky schlagfertig zurück. »Aber du könntest wirklich auch etwas tun. Du bist doch ein sportlicher Typ. Such mal die Bäume im Park nach Tuck ab.«

      »Ja«, rief Angelika, »oder fange für Marietta ein anderes Eichhörnchen ein.« Schon begeisterte sie sich an diesem Gedanken. »Das wäre doch die Rettung. Ein fuchsrotes Eichhörnchen, Nick. Die sehen doch alle ziemlich gleich aus. Marietta würde es dann vielleicht nicht merken, dass das neue Eichhörnchen nicht ihr Tuck ist.«

      Nick war an der Tür stehen geblieben. Jetzt lehnte er sich dagegen und seufzte so tief, dass es durch das ganze Zimmer klang. »Und ich lasse mir die Finger durchbeißen, was? Die brauche ich morgen sehr nötig. Für meine Lateinex.«

      »Ist vielleicht besser, du könntest sie nicht mitschreiben.« Vicky forderte ihn von neuem heraus.

      »Bei euch piepst’s da oben ganz schön.« Nick tippte sich an die Stirn. »Am meisten bei Pünktchen, aber bei dir, Vicky, und bei dir, Angelika, auch nicht weniger. Und denken könnt ihr nicht einmal von gestern auf heute. Selbst wenn ich ein Eichhörnchen einfangen könnte, meint ihr dann, das würde so zahm sein wie Mariettas Tuck? Nein, jetzt gehe ich wirklich, bevor ihr auf noch verrücktere Ideen kommt.« Die Tür fiel hinter Nick ins Schloss.

      Die drei Mädchen sahen einander betroffen an, bis Angelika bekannte: »Nick hat recht, es war eine verrückte Idee von mir. Aber das kommt nur daher, dass uns nichts einfällt, womit wir Marietta trösten können. Geben wir’s auf.«

      »Ich nicht.« Das sagte Pünktchen trotzig. »Ich gehe jetzt zu Marietta. Sicher läuft sie wieder im Park umher und schaut auf sämtliche Bäume. Einmal werde ich es schon schaffen, dass sie etwas Vertrauen zu uns hat. Als sie so aufgeregt war, kam sie ja auch zu Nick und mir gerannt. Ich wäre schon erleichtert, wenn sie sich wieder einmal bei mir ausweinte. Aber sie ist ja längst wieder so verkrampft wie vor dem Unglück mit Tuck. Oder noch mehr.«

      Auch Pünktchen verließ nun das Zimmer. Sie ging in den Park, um Marietta zu suchen. Und sie fand das kleine Mädchen auch wirklich dort, wo sie es vermutet hatte. Aber es starrte nicht auf die Bäume hinauf, es saß auf dem Rasen.

      Pünktchen setzte sich zu Marietta. Doch nun wusste sie nicht so recht, wie sie versuchen sollte, in ein Gespräch mit ihr zu kommen. So nahm sie Mariettas Hand und drückte sie fest. Dann legte sie den Arm um die Schultern der Jüngeren und zog sie zu sich heran. Jetzt hatte Pünktchen sogar das Gefühl, Marietta schmiege sich nun gern an sie. Zwar hatte sie sich auch in der vergangenen Zeit nie dagegen gesträubt, dass sie liebkost wurde, aber sie war dabei stets gleichgültig geblieben.

      Plötzlich fragte Marietta: »Pünktchen, meinst du, dass wir Tuck sehen werden, wenn das Laub von den Bäumen gefallen ist? Tante Isi hat gesagt, das dauert nicht mehr lange.« Die blauen Kinderaugen sahen fragend zu Pünktchen auf.

      »Vielleicht, Marietta«, antwortete Pünktchen noch etwas zögernd. Dann aber machte sie sich Mut. »Schau, Marietta, eigentlich denken wir alle nur an uns. Daran, dass wir traurig sind, weil Tuck nicht mehr bei uns ist. Wir sollten auch einmal daran denken, wie Tuck sich jetzt fühlt.«

      »Er ist auch traurig«, sagte Marietta leise. »Weil er nicht mehr bei mir sein kann.«

      »Aber dann käme er ja zurück, Marietta.«

      Das kleine Mädchen schüttelte den Kopf.

      »Vielleicht findet er nicht mehr nach Sophienlust zurück. Und überhaupt, hier ist ihm doch alles so fremd. Wenn wir in unserem Hotel geblieben wären, hätte ich Tuck heute noch.«

      »Das kannst du nicht so fest behaupten, Marietta. In einem Hotel geht es doch auch recht kunterbunt zu. Da sind immer viele Menschen. Also ist es nicht ruhiger als in Sophienlust.«

      Das schien Marietta einzusehen. Sie schwieg wieder lange Zeit. Dann sagte sie: »Elisabeth wird das Hotel ja nicht immer haben.«

      »Will sie es verkaufen?«,