Jay Dicharry

Entfesselt laufen


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getan hatte. Da das normale Reflexsignal, das mein Rückenmark sendete, gestört war, brauchte ich freiwillige Befehle aus meinem Gehirn. Und ich übte das Gehen... sehr oft. Letzten Endes verständigten sich mein Gehirn und die ZMG in meinem Rückenmark und schrieben ein neues Programm. Mein Gehirn hatte wieder Zeit, über andere Dinge nachzudenken, mein Gang wurde wieder automatisch und reflexartig, und ich konnte wieder gerade den Bürgersteig hinuntergehen. Keine Angst, mir geht es wieder gut, aber was ich hiermit zeigen will, ist wie plastisch unser Gehirn wirklich ist:

      Es ist tatsächlich möglich, die Art, wie Sie sich bewegen, zu verbessern.

      DAS MUSKELGEDÄCHTNIS AUFBAUEN

      Als Tom zu mir kam, stellte sich heraus, dass seine äußeren Hüftrotatoren, die für die Steuerung der Hüfte verantwortlich sind, blockiert waren. Während der Behandlung lernte Tom, seine Hüftmuskeln durch isolierte Bewegungen zu fühlen und abzurufen. Anfangs konnte er sich dabei nicht unterhalten. Es war nicht körperlich anstrengend, aber er musste sich mental ungemein konzentrieren. Für die meisten von uns bedeutet die mentale Konzentration, die benötigt wird, um eine neue Bewegung durchzuführen, eine 7 auf einer Skala von 1 bis 10. Hierbei sind wir in der kognitiven Phase unserer Bewegungsverbesserung. In dieser Phase sind die Bewegungen noch nicht gleichmäßig und brauchen haufenweise Hirnleistung. In dieser Anfangsphase funktioniert es meist nicht, einfach zu sagen: „So, und jetzt strecken wir mal das Bein.“ Tom hat einfach nicht das Muskelgedächtnis, das er benötigt, um diese neue Fertigkeit seinem Gangreflexprogramm hinzuzufügen.

      Nach zwei Trainingswochen bewegte Tom seine Hüfte schon geschmeidiger – er hatte ein paar neue Kabel verlegt. Es war nun an der Zeit, einige Übungen für eine vollständigere Körperbewegung hinzuzufügen. Wenn Tom sich jetzt anschickt, seine Hüften geradeaus zu lenken, dann macht er es richtig. Statt seine Knie nach außen zu drehen, so dass das ganze Gewicht auf der Außenseite des Fußes liegt, hält er seine Füße stark und gerade und bewegt sich richtig aus der Hüfte heraus. Tom spürt bereits, dass dieser Bewegungsablauf richtiger ist, aber er muss immer noch darüber nachdenken und muss noch ein wenig daran arbeiten, kontinuierlich so zu laufen. Tom hat keine riesige mentale Datenbank mit den richtigen Bewegungsabläufen. Sein Plan B ist für ihn immer noch der Normalzustand, und sein Plan A fühlt sich irgendwie gekünstelt an. Denken Sie daran, Laufen ist reflexartig. Um seine Form zu ändern, musste Tom zusätzlichen Input von seinem Gehirn in sein normales Gangbild einfügen, um seinen Körper beim Laufen zu kontrollieren. Und damit befinden wir uns nun in der assoziativen Phase der Bewegungsverbesserung. Tom kann die richtigen Bewegungsabläufe auf Kommando abrufen, aber sie sind ihm noch nicht vollständig in Fleisch und Blut übergegangen.

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      Nach einem Monat des Übens findet Tom die Übungen einfach, beinahe automatisch. Und das merkt man. Er ist nun in der autonomen Phase. Seine Muskeln sind in Topform, und Tom hat gelernt, diese Bewegungen in sein Gangbild zu übernehmen. Seine Hüftausrichtung beim Laufen ist nun symmetrisch. Er streckt seine Hüften nun korrekt und hat überhaupt keine Schmerzen mehr. Wir haben ein neuromuskuläres Problem durch neuromuskuläres Training gelöst.

      Fassen wir noch einmal zusammen. Tom hatte beim Laufen Schmerzen, was auch zu sichtbaren Schwierigkeiten bei seiner Laufform führte. Das Einknicken seines Beins führte zu einem Abscheren seiner Knieaußenseite, was wiederum zu einem Läuferknie führte. Aber was war das zugrundeliegende Problem, das sein Bein zum Einknicken brachte? Wir wissen, es fehlte ihm nicht an Muskelkraft. Muskeln brauchen etwa 6 bis 8 Wochen um größer zu werden (Hypertrophie) und mehr Kraft zu produzieren, aber Tom ging es schon nach nur vier Wochen besser. Was ist also passiert?

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      ABBILDUNG 2.3 Krafttraining für die Systemintelligenz

      Mit der Beinstreckmaschine kann eine intramuskuläre Verbesserung der isolierten Muskelstärke erreicht werden, aber es gibt funktionellere Bewegungsübungen, wie etwa einbeinige Kniebeugen, die intramuskuläre Stärke und Koordination aufbauen und so Ihren Lauf verbessern.

      Toms Beine knickten nach innen weg, da die Muskeln in seiner Hüfte, die das Gelenk stabilisieren und bewegen, nicht korrekt mit seinen ZMG verbunden waren. Daher konnte er seine Hüfte einfach nicht geradeaus bewegen, obwohl er wusste, dass dies das Problem war. Präzise Bewegungen benötigen Koordination – sowohl zwischen den Muskeln als auch innerhalb eines Muskels.

      Intramuskuläre Koordination können wir uns wie ein Selbstgespräch des Muskels vorstellen. Ein Muskel besteht aus vielen Fasern, die sich zusammenziehen, um eine Muskelkontraktion zu erzeugen, die wiederum zu einer Bewegung führt. Wenn der Muskel gehemmt (oder „ausgestöpselt“) ist, dann bekommen nicht genügend dieser Fasern das Signal, sich anzustrengen. Um das wieder in Ordnung zu bringen, sind sehr spezifische, manchmal sogar isolierte Bewegungen notwendig, um den Fasern innerhalb des Muskels beizubringen, miteinander zu kommunizieren und so eine gleichförmigere Kontraktion zustande zu bekommen. Diese Trainingsmethode zielt auf Muskelintelligenz ab.

      Intermuskuläre Koordination bezieht sich auf die Kommunikation zwischen den Muskeln. Sie können Trainieren wie ein Bodybuilder und acht Sätze auf der Beinstreckmaschine hinlegen und so Ihre intramuskuläre Koordination und Stärke erhöhen, bis Ihre Oberschenkelmuskeln nicht mehr in Ihre Jeans passen. Aber diesen einen Muskel zu trainieren wird Ihnen nicht dabei helfen, besser zu laufen. Beim Sport agieren Muskeln nicht isoliert, wie sie es tun, wenn Sie auf der Beinstreckmaschine trainieren. Was Sie wirklich trainieren müssen, sind Bewegungsabläufe, nicht Muskeln. Diese Trainingsmethode zielt auf Systemintelligenz ab.

      Manche Menschen stellen sich intermuskuläre Koordination und die hierfür notwendige Arbeit als eine Art Crosstraining vor. Aber das hat nicht viel mit der Wirklichkeit zu tun. Die Forschung zeigt, dass neuromuskuläres Training hervorragende Ergebnisse erreicht. Es verringert Ihr Verletzungsrisiko und verbessert die Koordination, Schnelligkeit, den vertikalen Sprung und die Kontaktzeiten. Dieses Training ist ein Zusatz zu Ihrem Lauftraining. Crosstraining bezieht sich auf eine Art Training, das Personen, die laufen, durchführen, um ihr Herz und ihre Lungen in Form zu halten, wenn ihr Laufvolumen gerade eher niedrig ist. Zusätzliches Training verfeinert hingegen Ihre Fähigkeiten und macht Sie zu einem besseren Läufer oder einer besseren Läuferin.

      Wenn wir sagen, dass Muskeln „ausgestöpselt“ sind, dann meinen wir damit, dass sie nicht mit unseren voreingestellten Reflexbewegungen verbunden sind. Deshalb konzentrieren wir uns darauf, die Koordination sowohl innerhalb eines Muskels als auch zwischen den Muskeln aufzubauen. Durch Übung erlaubt uns die neurale Plastizität, diese präzisen Bewegungen mit unseren ZMG zu „verkabeln“. So geht uns die präzise Laufform in Fleisch und Blut über.

      Koordination, Kontrolle und Präzision sind allesamt Fähigkeiten, die jeder Läufer üben muss. Für diese Bewegungen sind ein hohes Volumen und wenig Resistenz notwendig. Sie sollten diese Fähigkeiten ein paar Mal jede Woche das ganze Jahr über trainieren, um zu gewährleisten, dass der Bewegungsablauf beim Laufen automatisch abgerufen werden kann. Sie müssen die Bewegungen wirklich verinnerlichen, nicht nur bei einer Übung oder einer Trainingseinheit, nicht nur nach einem Kilometer oder nach fünf, sondern bei jeder Wiederholung auf der Aschenbahn, jedes Mal, wenn Sie einen Hügel hinauflaufen und bei jedem Kilometer des Wettlaufs. Das Ziel ist letztendlich, das Bewusstsein für den verfeinerten Bewegungsablauf reflexartig werden zu lassen. Das ist besonders wichtig an einem Wettlauftag, wenn Sie das Programm abfahren müssen, das Sie so oft geübt haben, ohne lange darüber nachzudenken.

       DIE HINTERGRÜNDE

       Mobilität und Stabilität für besseres Laufen

      Es ist 15:15 Uhr an einem Mittwochnachmittag. Unser Track-Team hat den ganzen Morgen in Seminaren gesessen und ist jetzt seit etwa 5 Minuten auf der Laufbahn. Um in Bewegung zu kommen, fangen wir mit Aufwärmübungen