Christine von Bergen

Der Landdoktor Classic 40 – Arztroman


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      »Grüß dich, mein Bester. Hast du gerade a bissl Zeit für mich?«

      »Genau fünf Minuten«, antwortete Dr. Matthias Brunner. »Dann beginnt meine Nachmittagssprechstunde.«

      Er lächelte vor sich hin, während er Gernot Lugner im Geiste vor sich sah: Das volle Gesicht, auf dem der viel zu hohe Blutdruck des Konzertveranstalters geschrieben stand, die Krawatte in grellen Buntstiftfarben, sein chaotischer Schreibtisch …

      »Ich hab a Anliegen an dich«, sprach Gernot mit seiner dröhnenden Stimme wie ein Wasserfall weiter. Auch nach den vielen Jahren, die sein ehemaliger Kommilitone bereits in Freiburg lebte, hörte man ihm immer noch den Wiener Akzent an.

      »Ich habe endlich die Sibyll unter Vertrag bekommen. Sibylle Bachmann heißt sie als Privatperson. Für den Baden-Badener Sommer, du weißt schon, die bekannte Open-Air-Veranstaltung. Ihr Agent hat mir vor ein paar Minuten den unterschriebenen Vertrag zugefaxt. Aber wie die meisten großen Stars hat auch diese Madame ein paar Bedingungen gestellt, unter denen sie in Baden-Baden nur auftreten will. Also hör zu, mein Freund …«

      Während sich der Landarzt das Anliegen seines ehemaligen Kommilitonen, der nach nur vier Semestern das Medizinstudium abgebrochen hatte, um sich in der Welt der Stars zu tummeln, aufmerksam anhörte, schweifte sein Blick durch das offen stehende Fenster des Sprechzimmers nach draußen.

      Auf der gegenüberliegenden Seite des Praxishügels, wie die Ruhweiler die Anhöhe nannten, auf der sein Wohnhaus, die Praxis und die Miniklinik standen, zogen sich blühende Wiesen hinauf zu den tiefschwarzen Wäldern, die ihre schlanken Wipfel in den tiefblauen Sommerhimmel streckten.

      »Wirst mir den Gefallen tun?«, fragte Gernot schließlich schnaufend. »Aber wie gesagt, die Angelegenheit muss äußerst sensibel behandelt werden. No publicity. Sonst springt die Bachmann mir wieder ab. So steht es im Vertrag.«

      »Ich werde mit Ulrike überlegen, welche Unterkunft infrage kommen könnte, und mein Bestes tun«, versprach Matthias ihm.

      »Sag mir Bescheid, wenn du die Sache unter Dach und Fach hast«, bat Gernot und verabschiedete sich alsbald wieder in der für ihn so typischen atemlosen Art.

      Der Landdoktor stieß die Luft hörbar aus. Ihm war zumute, als wäre gerade ein Orkan über ihn hinweg gefegt. O je, das konnte ja noch heiter weiter. Hoffentlich hatte er Gernot nicht zu viel versprochen.

      *

      »Die Sibyll? Die Sängerin?« Ulrike Brunner machte große Augen. »Das ist doch einer der bekanntesten Schlagerstars, die wir zurzeit haben.«

      »Ja, eben.« Ihr Mann nickte. »Deshalb will Gernot auch keinerlei Aufsehen. Die junge Dame hat ein Burnout hinter sich. Das heißt, sie hat sich immer noch nicht ganz davon erholt und will sich hier irgendwo in der Abgeschiedenheit der Natur auf ihren ersten Auftritt nach ihrer Pause vorbereiten. Zur Ruhe kommen, gute Luft …« Er seufzte und hob die Schultern. »Na ja, wer weiß, was sich Frau Bachmann darunter vorstellt. Auf alle Fälle sucht Gernot ein Hotel, das luxuriös ist und doch nicht überlaufen. Eine Oase, wie er sich ausdrückte. Er meint, hier bei uns im Ruhweiler Tal fündig werden zu können.«

      »Wenn nicht bei uns, wo dann?«, meinte jetzt auch sein Lockenköpf­le. »Das renommierte Wiesler kommt da natürlich nicht infrage, obwohl deren Wellnessbereich ja super ist, aber da verkehrt zu viel andere Prominenz.« Sie legte den Zeigefinger an die Nasenspitze, was ein Zeichen dafür war, dass sie überlegte.

      In Ruhweiler gab es viele Gasthöfe und Pensionen, die jedoch verfügten alle nicht über den Luxus, der in diesem Fall verlangt wurde. Nach ein paar Sekunden lichtete sich ihre Miene.

      »Roland«, sagte sie mit fester Stimme. »Ja, das ist es.« Sie nickte entschlossen.

      »Ich weiß nicht«, widersprach ihr Matthias. »Roland hat erst vor Kurzem sein Hotel eröffnet.«

      »Was nur dafür spricht, dass es das richtige ist. Dann ist alles noch neu und unversehrt.«

      »Hat er denn überhaupt die nötige Erfahrung als Hotelier, um den hohen Ansprüchen eines bekannten Stars gerecht werden zu können?«

      »Da bin ich sicher. Roland hat immerhin mehrere Jahre in den besten Häusern Europas gearbeitet. Außerdem ist er im Gastronomiegewerbe groß geworden. Als kleiner Junge hat er schon im Gasthof seiner Eltern geholfen.« Ulrike nickte entschlossen. »Glaub mir, sein Hotel ist genau richtig. Es ist zwar klein, aber fein. Es besitzt eine hervorragende Küche, sehr individuell eingerichtete Zimmer und eine piekfeine Wellnessabteilung mit allem, was man sich wünscht.«

      »Und sein Personal?«

      »Alle sind bestens ausgebildet. Das habe ich noch vor ein paar Tagen bei Marta Biechle im Laden gehört. Ein paar Ruhweilerinnen haben darüber gesprochen.«

      »Dann muss es ja stimmen«, erwiderte Matthias trocken und lachte.

      »Lach nicht. Die älteren Frauen hier tratschen lieber über Skandale als über Erfolge. Wenn sie so viel Lob über Rolands Hotel ausschütten, ist es bestimmt mehr als begründet. Weißt du was?« Sie beugte sich über den Terrassentisch, an dem die beiden das Abendessen eingenommen hatte. »Wir überzeugen uns selbst vom Ruhweiler Hof. Was hältst du davon? » Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und schenkte ihrem Mann das liebreizende Lächeln, dem der Landarzt selbst nach mehr als dreißig Ehejahren nicht widerstehen konnte. »Ich räume schnell ab. Statt den Abend auf der Terrasse zu beenden, spazieren wir mit Lump zum Ruhweiler Hof und trinken dort ein Glas Glottertaler. Dann kann uns Roland sein Hotel zeigen, und wir entscheiden, ob es eines Stars wie Sibylle Bachmann würdig ist und ihren Wünschen nach Ruhe und Inkognito entspricht.«

      *

      »Bitte, Susi«, sagte Roland Meister zu der rothaarigen jungen Frau in genervtem Ton. »Das haben wir schon hundertmal besprochen. Ich mag dich, aber ich liebe dich nicht.«

      »Das erwarte ich ja auch gar nicht. Wenn du mich nur ein bisschen lieb hast, ist dies doch schon eine gute Voraussetzung für eine Ehe. Ich habe keine hohen Ansprüche an dich. Ich würde es dir immer danken.«

      Roland fuhr sich mit allen zehn Fingern durch das dunkle, dichte Haar.

      Wie hatte er sich nur auf diese kurze Affäre vor einem Jahr einlassen können?

      Er sah Susi ernst an.

      »Wie lange kennen wir uns schon?«, fragte er im Ton eines Vaters, der mit seiner uneinsichtigen Tochter spricht. »Seit der Schulzeit«, beantwortete er seine Frage selbst, um dann eindringlich hinzuzufügen: »Ich mag dich wie eine gute Bekannte, aber nicht als die Frau, die ich einmal heiraten werde. Lass uns ehrlich zueinander sein. Wir passen doch gar nicht zusammen.«

      Susis grüne Augen blitzten auf. »Nur weil du aus einer reichen Familie stammst und ich ohne Vater aufgewachsen bin, nicht wahr? Das meinst doch?« Herausfordernd sah sie den attraktiven Hotelier an.

      »Nein, das meine ich nicht, Susi«, erwiderte Roland mit dem letzten Rest an Geduld.

      Wie oft schon hatte er diese Unterhaltung mit ihr geführt. Niemals hätte er gedacht, dass Susi ihm derart nachstellen würde, nachdem er mit ihr Schluss gemacht hatte. Er ahnte jedoch, dass es ihr hauptsächlich um sein Geld ging. Sie war im Tal dafür bekannt, eine gute Partie machen zu wollen. Mit ihrer Karriere als Schlagersängerin hatte es bis jetzt nicht so geklappt, wie sie es sich wünschte.

      »Wir haben nicht die gleiche Wellenlänge«, fuhr er fort. Als Susi aufbegehren wollte, fügte er mit fester Stimme hinzu: »Dabei sollten wir es belassen, sonst machst du auch noch unsere Freundschaft kaputt.«

      Unter seinem warnenden Blick zuckte sie jetzt sichtlich zusammen. Sie öffnete den Mund. Doch dann schien sie sich zu besinnen. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und rauschte aus seinem Büro.

      O Mann, dachte er. Dabei raufte er sich erneut die Haare. Das konnte ja noch heiter weiter. Zu dumm aber auch, dass ihre letzte Affäre mit einem vermögenden Banker ein so jähes Ende gefunden hatte. Nun hatte sie sich wieder auf ihn besonnen. Wie sollte er nur aus dieser Nummer herauskommen, ohne sie zu sehr zu verletzen? Das Los, das sie seit dem Tod ihrer Mutter zu tragen hatte, war ohnehin schon schwer genug.

      *