ja, flirtender Blick galt eindeutig der ganz normalen Bergwanderin. Wie lange war es her, dass ein Mann mit ihr und nicht dem Star geflirtet hatte?
Diese Erkenntnis mochte eine besondere Wärme in das Lächeln der jungen Frau zaubern. Sie ließ ihre Augen strahlen und weckte in ihr alle längst ermüdeten Lebensgeister.
»Machst du Urlaub hier bei uns im Tal?«, fragte der junge Mann in dem grünen Overall.
»Ja«, antwortete sie mit belegter Stimme. Sie fühlte sich befangen, ja, sogar ein wenig unsicher.
»Und? Gefällt es dir bei uns?«
»Sehr«, antwortete sie mit einer Begeisterung, die aus ihrer melodisch klingenden Stimme deutlich herauszuhören war.
Die beiden sahen sich an, lächelten einander zu, schwiegen.
»Dann wünsche ich dir was«, verabschiedete sich der Waldarbeiter schließlich und hob lässig die Hand. »Ich muss die anderen holen, damit wir heute rechtzeitig mit unserer Arbeit fertig werden.«
»Ich dir auch«, erwiderte sie mit dem Anflug leichten Bedauerns, hob ebenfalls zum Abschied die Rechte und drehte sich um.
Wie gut tat es, sich nach langer Zeit wieder einmal ganz normal mit einem Mann zu unterhalten, dachte sie. Und wie eine ganz normale Frau behandelt zu werden.
Während sie so in Gedanken weiterging, spürte sie deutlich, wie sich ihre Brust weitete, wie sich ihr Herz öffnete. Und sie fühlte sich mit einem Mal innerlich so frei wie die Schwalben, die über den Tannenwipfeln am azurblauen Himmel ihre Kreise zogen.
*
Roland Meister blickte der Urlauberin nach.
Was für eine Frau, dachte er wie verzaubert. Eine Elfe, voller Anmut. Und diese wunderschönen tiefblauen Augen, denen der dichte Kranz langer schwarzer Wimpern noch mehr Tiefe schenkte. Wie ein geheimnisvoller See. Nur sehr blass hatte sie ausgeschaut. Richtig erholungsbedürftig. Vielleicht sogar ein bisschen zu dünn. Aber nach ein paar Tagen in der guten Tannenluft würde sie schnell wieder zu Kräften kommen.
Der Hotelerbe blinzelte ein paar Mal ungläubig vor sich hin und schüttelte dabei lächelnd den Kopf.
So etwas war ihm noch nie passiert. Noch nie zuvor hatte eine Frau einen solch intensiven Eindruck bei ihm hinterlassen. Sie hatte eine Aura gehabt, die ihn, ohne dass er sich hatte wehren können, in ihren Bann gezogen hatte. Merkwürdig. Irgendwie kam sie ihm bekannt vor. Wie eine Seelenverwandte. Oder hatte er sie schon einmal gesehen? Aber wo? Ihre Stimme … So weich, melodisch, singend …
Er sah das ebenmäßig geschnittene, blasse Frauengesicht vor sich. Die schneeweißen, makellosen Zähne, dieses Lächeln … Da durchfuhr es ihn wie ein Blitz. Eine Vermutung kam in ihm auf. War diese bezaubernde Person etwa der bekannte Schlagerstar Sibyll, die zurzeit in seinem Haus wohnte?
Sein Herz begann, schneller zu schlagen. Das würde er nach getaner Arbeit hier im Wald schnellstens herausfinden. Er machte kehrt und ging in Gedanken versunken zu den Holzfällern zurück. Diese zierliche Gestalt mit dem roten Rucksack auf dem Rücken sollte die berühmte Schlagersängerin sein, die zurzeit im cremeweißen Paillettenkleid, mit gestyltem Haar und verlockend schimmernden Lippen von den Plakaten in Baden-Baden und Umgebung auf ihre Fans hinunter strahlte? Wenn dem so sein würde, dann hatte er gerade den Menschen kennengelernt, der in dieser glitzernden Hülle steckte. Und dieser Mensch war ihm als ganz natürliche, ganz normale und bescheidene Frau ohne jegliche Starallüren vorgekommen. In der Presse dagegen wurde die erfolgreiche Sängerin als launisch, zickig und anspruchsvoll beschrieben.
Roland schüttelte noch einmal ziemlich fassungslos den Kopf.
Ihm war zumute, als hätte ihm das Schicksal gerade ein ganz besonderes Geschenk gemacht. Noch heute würde er das Geheimnis um die blonde Wanderin lösen. Auch wenn sie nicht Sibyll hieß, würde er sie näher kennenlernen wollen. Tief im Herzen wünschte er sich sogar, dass dieses bezaubernde Wesen eine ganz normale Urlauberin war und kein Star.
*
Der sympathische Waldarbeiter begleitete Sibylle in Gedanken bis zu dem Hexenhäusle und ließ sie alle körperlichen Beschwerden vergessen. Da auf der Terrasse der kleinen Hütte alle Plätze besetzt waren, wie sie schon von Weitem erkennen konnte, machte sie kehrt. Den vielen Menschen dort oben wollte sie sich nicht zeigen.
Auf dem Rückweg zu ihrer Unterkunft meldete sich wieder der Brustschmerz. Dieses Mal ungewohnt heftig und bis in die Schulter hinein. Zum ersten Mal kam Panik in ihr hoch. Ob es sich bei den Schmerzen vielleicht doch um die Ankündigung eines Herzinfarktes handelte? In ihrem Alter?
Denk an dein Burnout, warnte sie da eine innere Stimme, die der Vernunft.
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